Unzumutbare Enge: Die Haftbedingungen in Champ-Dollon sind menschenrechtswidrig. © Ambroise Héritier
Unzumutbare Enge: Die Haftbedingungen in Champ-Dollon sind menschenrechtswidrig. © Ambroise Héritier

MAGAZIN AMNESTY Folter Problematische Praktiken

Folter – was geht sie uns in der Schweiz an? Doch: Auch hier erleiden Menschen Misshandlungen, oft ungeachtet der Öffentlichkeit. Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) hat durchaus Anlass zur Kritik.

Es gibt hier keine verdreckten Zellen, in welchen mit Elektroschocks, Knüppeln und Schlafentzug Geständnisse herausgepresst werden. Nein, in der Schweiz wird nicht gefoltert. Dennoch gibt es «problematische Praktiken» in Haftanstalten oder im Asylbereich, die Kritik hervorrufen. Einzelhaft, überfüllte Gefängnisse, die Dauer der Ausschaffungshaft oder die Ausschaffungsmethoden führen immer wieder dazu, dass auf die Rechte der Betroffenen hingewiesen werden muss, ohne dass allerdings gleich eine schwere Misshandlung im Sinne der Antifolter-Konvention vorliegt. Nichtregierungsorganisationen, nationale und internationale Behörden und auch das Bundesgericht haben sich mehrmals mit der Behandlung von Asylsuchenden und Häftlingen auseinandergesetzt.

«In den Gefängnissen werden Regeln nicht immer eingehalten.»

«In den Gefängnissen werden die Regeln für die Haftbedingungen nicht immer eingehalten, sei es, wenn es um die Platzverhältnisse geht, sei es bei der Dauer der Spaziergänge – die Zeit, welche die Gefangenen in ihren Zellen verbringen müssen, ist meist zu lang. Auch die Zeit für Körperhygiene und die Möglichkeit zu arbeiten, sind oft eingeschränkt», erklärt Daniel Bolomey, Mitglied der nationalen Antifolter- Kommission NKVF. «Bei den Zwangsausschaffungen sind es die unverhältnismässigen und gefährlichen Fesselungen, welche Kritik hervorgerufen haben.» Seit vier Jahren wacht die vom Bundesrat gewählte NKVF über die Einhaltung der Antifolter-Konvention der Vereinten Nationen und über das fakultative Zusatzprotokoll (OPCAT). Die Kommission besucht Haftanstalten, verfasst Empfehlungen und überprüft, ob diese umgesetzt wurden.

Während Jahren im Schatten

In der Schweiz gibt es sechs Anstalten mit Hochsicherheitstrakten. Eine Art Gefängnis im Gefängnis. Häftlinge, die als Gefahr für sich selbst, für die Mitgefangenen oder für die Gesellschaft angesehen werden, werden hier isoliert, manchmal für Jahre. 2013 waren dies gemäss den Zahlen im Jahresbericht der NKVF 35 Personen. Im Genfer Gefängnis Champ-Dollon befinden sich gegenwärtig sechs Personen in Einzelhaft, darunter eine Person seit sechs Monaten, wie der stellvertretende Direktor der Anstalt, Fabrizio Bervini, informiert. Diese sehr harte Form der Haft stellt eine gesundheitliche Bedrohung für den betroffenen Häftling dar. «Die Gefangenen können bis zu 22, ja 23 Stunden am Tag eingesperrt sein, ohne Besuchsrecht. Oft sehen sie niemanden ausser den Wärtern», hebt Daniel Bolomey hervor. Die Einzelhaft – vor allem, wenn sie andauert – erschwert ausserdem die Wiedereingliederung des Gefangenen.

«Bei einer Dauer von über sechs Monaten kann die Isolationshaft Folter gleichkommen.»

Der Sonderberichterstatter über Folter des Uno-Menschenrechtsrats hält in einem Bericht fest: «Je länger die Isolationshaft andauert oder je ungewisser deren Dauer ist, umso höher ist das Risiko für schwere, irreparable Schäden – ähnlich denen von unmenschlichen und entwürdigenden Behandlungen wie der Folter.» Patrick Walder, Verantwortlicher für die Antifolter-Kampagne bei Amnesty Schweiz, dazu: «Bei einer Dauer von über sechs Monaten kann die Isolationshaft Folter gleichkommen.» Wie soll aber über die Dauer einer solchen Massnahme entschieden werden? Für Daniel Bolomey ist hier die Frage der Verhältnismässigkeit zentral. Man müsste sich auf eine Regelung für Einzelhaft abstützen können, die den Häftlingen bekannt ist und die in allen Haftanstalten gleich gehandhabt wird.

Internierung oder Behandlung?

Aus Platzgründen sitzen auch Menschen mit psychischen Störungen in Haftanstalten ein. Daniel Bolomey betont, dass zu wenig unterschieden werde zwischen Personen, die eingesperrt werden müssen, und Personen, die eine Behandlung benötigen. Es gäbe einen grossen Mangel an spezialisierten Institutionen. Für Denise Graf, Verantwortliche für Asyl- und Migrationsfragen bei Amnesty Schweiz, gibt man psychisch kranken Häftlingen damit «immer weniger die Chance, gesund zu werden». Denise Graf bedauert, dass die Anstalt Curabilis in Genf – die eigentlich für Häftlinge mit psychischen Problemen vorgesehen ist – immer stärker mit gesunden Häftlingen belegt wird, um Champ-Dollon zu entlasten.

Die Enge als Spannungsquelle

Gemäss Daniel Bolomey «führt die Überbelegung der Gefängnisse zu inakzeptablen Haftbedingungen». Im März anerkannte das Bundesgericht im Fall eines Untersuchungshäftlings, dass die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte definierten Minimalstandards für Haftbedingungen in Champ-Dollon nicht erfüllt werden. So zum Beispiel die Zellenfläche pro Häftling: «In Champ-Dollon kommen heute 867 Gefangene auf eine Kapazität von 387 Haftplätzen. Es ist unvermeidlich, dass diese Überbelegung im Widerspruch zu Grundrechten steht», so Fabrizio Bervini.

Besserung bei «Spezialflügen»

Die Zwangsausschaffungen haben der Antifolter-Kommission in den letzten Jahren viel Arbeit beschert. Seit zwei Jahren sind bei jedem Spezialflug von der NKVF mandatierte BeobachterInnen dabei. «Wir sind froh, dass sich die Ausschaffungsmethoden, die sogar Todesopfer forderten, dank der systematischen Beobachtung der Flüge verbessert haben», meint Daniel Bolomey. Es gebe zwar noch Unterschiede zwischen den Kantonen, aber die allgemeine Tendenz sei positiv. «Die Schweiz bleibt allerdings ein hartes Land», fährt Bolomey fort, «denn die von diesen Ausschaffungen Betroffenen sind längst nicht alles Kriminelle.»

Von Jean-Marie Banderet


Viele Konventionen, aber keinen Artikel im Strafgesetzbuch

Die Schweiz hat die Uno-Konvention gegen Folter unterzeichnet wie auch das Zusatzprotokoll (OPCAT). Ausserdem unterzeichnete sie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), den internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte wie auch das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe. Diverse nationale, europäische und internationale Kontrollinstanzen wachen darüber, dass diese Abkommen durch die Eidgenossenschaft eingehalten werden. Aber die juristische Basis fehlt: Das Schweizer Strafrecht listet nämlich Folter und Misshandlungen nicht als Straftatbestand auf. Verschiedene Akteure und NGOs, darunter auch Amnesty, wollen das ändern. Sie verlangen, dass ein Artikel, der Folter und Misshandlung explizit verbietet, ins Gesetz aufgenommen wird.

Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von August 2014.
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion