Ungleiche Gastfreundschaft: Europa hat rund 2,7 Millionen Menschen aufgenommen. Weltweit befinden sich in Pakistan, Libanon, Iran und Türkei am meisten Flüchtlinge. © AI / Quelle: UNHCR, Global Trends Report 2013
Ungleiche Gastfreundschaft: Europa hat rund 2,7 Millionen Menschen aufgenommen. Weltweit befinden sich in Pakistan, Libanon, Iran und Türkei am meisten Flüchtlinge. © AI / Quelle: UNHCR, Global Trends Report 2013

MAGAZIN AMNESTY Festung Europa Statistiken des Schreckens

Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Dezember 2014. Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion
Die Zahl der Menschen, die wegen Krieg, Verfolgung und Armut nach Europa zu gelangen versuchen, steigt kontinuierlich und wird angesichts der anhaltenden Konflikte auch nicht zurückgehen. Dennoch verschärft Europa seine Politik der Abschottung – und lässt damit  Hunderttausende Schutzbedürftiger im Stich.

Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg sind mehr als 50 Millionen Menschen auf der Flucht (Flüchtlinge, Asylsuchende oder Binnenvertriebene). 50 Prozent der vom UNHCR als Flüchtlinge Anerkannten sind inder. Europa steht – nebst zeitweise auch den USA und Australien – scheinbar im Fokus der Migration. Man spricht von Menschenströmen, die Europa «zu überfluten drohen», zynischerweise auch von «Flüchtlingswellen». Diese Nabelschau, mit welcher rechtspopulistische Politik gegen die «Gefahr der Überfremdung » gemacht wird, blendet vollkommen aus, dass 9 von 10 Flüchtlingen in Entwicklungsländern leben. So ist Pakistan das Land, das 2013 am meisten Flüchtlinge aufgenommen hat: 1,6 Millionen Menschen – fast alle aus Afghanistan geflohen. In Afrika südlich der Sahara zählte das UNHCR 2013 über 3 Millionen Flüchtlinge; über 12 Millionen intern Vertriebene(das heisst Menschen, die innerhalb ihres eigenen Landes migrieren mussten) lebten Ende des Jahres zumeist in den zum Teil riesigen Flüchtlingslagern Afrikas.

Der kleine, politisch ohnehin schon instabile Libanon ist mit mehr als 850000 Kriegsflüchtlingen aus Syrien an der Grenze seiner Möglichkeiten. Und das vergleichsweise reiche Europa? Die europäischen Staaten haben bis Ende 2013 knapp 2,7 Millionen Flüchtlinge und  AsylbewerberInnen aufgenommen. Dies nur einige nackte Zahlen, die das UNHCR in seinem Global Trends Report 2013 zusammengetragen hat.

Dreitausend Ertrunkene 2014

Hinter diesen Statistiken stehen Krieg, Vertreibung, Entbehrungen und Hunger. Nicht nur als Fluchtgründe, sondern auch als Erlebnisse während und nach der Flucht. Eine dieser schrecklichen, ständig steigenden Ziffern: Seit Anfang des Jahres sind mindestens 3000 Migrantinnen und Migranten im Mittelmeer ertrunken, weil sie versuchten, auf dem europäischen Kontinent Schutz vor Verfolgung, Krieg und Armut zu finden. 90000 Menschen wollten allein im vergangenen Quartal per Boot nach Europa, vor allem aus Syrien, Eritrea und Nordafrika. Immer mehr Menschen kommen auf dem Seeweg, weil es immer schwieriger wird, Europas Grenzen auf dem Landweg zu überwinden. Ein Beispiel ist der 20 Kilometer lange Stacheldrahtzaun zwischen Bulgarien und der Türkei, der auch von Schweizer GrenzwächterInnen im Rahmen der europäischen Grenzschutzagentur Frontex bewacht wird.

Immer mehr Menschen kommen auf dem Seeweg, weil es immer schwieriger wird, Europas Grenzen auf dem Landweg zu überwinden.

Dennoch will Italien, das seit Beginn der Rettungsoperation «Mare Nostrum» mehr als 150000 MigrantInnen aus dem Mittelmeer gerettet hat, diese Operation nun Ende des Jahres einstellen. Die Nachfolgeoperation «Triton» der EU-Grenzschutzagentur Frontex wird weitere Tote nicht verhindern können. Im Gegenteil: Das Mandat von Frontex ist nicht Lebensrettung, sondern die Sicherung der Grenzen Europas und damit das Verhindern illegaler Einwanderung. Die Patrouillen der Triton-Boote sollen sich nur noch auf die italienischen Küstengewässer beschränken, während bislang die Such- und Rettungsaktionen der italienischen Marine und Küstenwache Italiens bis an die Grenze Nordafrikas reichten. Das Budget von «Triton» ist denn auch wesentlich tiefer als dasjenige von «Mare Nostrum»: Vorgesehen ist ein Budget von monatlich 2,7 Millionen Euro, während Italien bislang monatlich 9 Millionen Euro ausgegeben hatte.

Schutz der Zäune statt Menschen

Für die Sicherung der Grenzen, sprich das Abhalten der Flüchtlinge, wurde schon viel Geld ausgegeben. Zahlen von Amnesty International aus dem Jahr 2012 sprechen von 2 Milliarden Euro, die bis dahin von der Europäischen Union für den Bau von Zäunen, hochentwickelte Überwachungssysteme und Grenzkontrollen aufgewendet wurden; hingegen wurden nur 700 Millionen Euro für die Flüchtlinge und AsylbewerberInnen auf europäischem Boden investiert. Die schrecklichen Statistiken der vielen Toten könnten hier ergänzt werden mit Zahlen, die die prekären Lebensbedingungen der Flüchtlinge an Europas Grenzen dokumentieren. Ein besseres Bild geben die zwei Reportagen dieser Ausgabe. Denn es geht ja eigentlich um Menschen, nicht um Zahlen.

Von Manuela Reimann Graf