Von Islamisten zerstört: Die Kathedrale von Mogadischu. © AI
Von Islamisten zerstört: Die Kathedrale von Mogadischu. © AI

MAGAZIN AMNESTY Somalia «Niemand ist seines Lebens sicher»

Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Dezember 2014. Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion
Die Internationale Gemeinschaft fördert den Aufbau einer somalischen Regierung. Doch die Gewalt hält an, und viele Somalierinnen und Somalier fürchten sich inzwischen auch vor ihrer Regierung.

Von draussen kommt Baulärm, der Richter ist deshalb nur schwer zu verstehen. «Sie verbessern die Sicherheit der Gebäude», sagt Aideed Ilkahanaf. «Das Attentat hat ja gezeigt, wie nötig das ist.» Im Juli 2014 stürmten Kämpfer der islamistischen Shabaab-Miliz den Sitz des somalischen Präsidenten in Mogadischu, die sogenannte Villa Somalia. Dabei starben mindestens neun Menschen. Ilkahanaf wäre beinahe unter den Toten gewesen, weil er in der Villa Somalia drei schlichte Zimmer bewohnt. Die einst pompöse Anlage, ehemals Sitz des Diktators Siad Barre, ist immer noch vom Krieg gezeichnet und verkommen. Trotzdem suchen hier ausser dem Präsidenten auch Regierungsmitglieder Zuflucht, die um ihr Leben fürchten. Die Angreifer konnten die Sicherheitssperren aber passieren, weil sie einen wichtigen Verbündeten hatten: den Sohn des Imams der Moschee auf dem Gelände der Villa Somalia. «In Mogadischu kann niemand seines Lebens sicher sein», sagt Aideed Ilkahanaf. «Jeder kann dein Mörder sein. Dein Bruder, dein Leibwächter – jeder.»

Mehr als zwanzig Jahre lang hatte Somalia keine Regierung. Seit der letzte Diktator Siad Barre im Januar 1991 gestürzt wurde, ist das ostafrikanische Land in Anarchie versunken. Das hat sich auch mit der neuen Regierung unter Präsident Hassan Sheikh Mohamud nicht grundsätzlich geändert. Nach über zwei Jahrzehnten Bürgerkrieg war sie 2012 die erste Regierung, die international anerkannt wurde.

Der gefangene Richter

«In den vergangenen Monate habe ich 16 Kollegen durch Attentate verloren», sagt Ilkahanaf. Einige von ihnen sah er in ihrem Blut liegen nach Anschlägen, die auch auf sein Leben zielten. Ähnlich gefährdet wie Juristinnen und Juristen sind alle anderen VertreterInnen des Staates oder RepräsentantInnen «westlichen» Denkens: Parlamentarierinnen, Polizisten, Soldatinnen, Journalisten. Ilkahanaf ist leitender Richter am obersten Berufungsgericht Somalias. Im März 2013 sprach er den Journalisten Abdiaziz Abdinur Ibrahim frei. Der Reporter hatte zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als zwei Monate in Haft gesessen, weil er über eine Vergewaltigung berichtet hatte. Auch die Frau, an der das Verbrechen verübt worden war, war zunächst verhaftet und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden. Die Begründung: Sie habe mit ihrer Klage gegen die Soldaten, die sie vergewaltigt hatten, «staatliche Institutionen beleidigt ». Mit derselben Begründung hatte das erstinstanzliche Gericht gegen den Journalisten geurteilt, auch er sollte für ein Jahr in Haft. Die Frau war zu diesem Zeitpunkt nach internationalen Protesten schon wieder frei.

Ausserhalb des Gebäudes kann er sich nicht bewegen, aus Sicherheitsgründen. «Man lebt hier wie im Gefängnis», sagt der Richter.

Mit seinen Urteilen macht sich Ilkahanaf in Somalia immer mehr Feinde. Nur knapp überlebte er zum Beispiel den Anschlag auf das Gericht von Mogadischu im April 2014. «Wahrscheinlich wollten die Attentäter vor allem mich treffen», sagt er durch den Baulärm hindurch, denn die islamistischen Kämpfer stürmten den Raum, in dem er sonst immer tagt. «Zufällig war ich an diesem Tag in einem anderen Raum.» Ilkahanafs Zimmer in der Villa Somalia liegen am Ende eines verwahrlosten Flures. Er wohnt alleine – abgesehen von seinen Leibwächtern, die in einem der leeren Zimmer campieren, und seiner Haushaltshilfe, die in einem weiteren der leeren Zimmer für ihn kocht. Der Richter beginnt jeden Tag, indem er den Flur fünfzig Mal auf- und abgeht. Denn ausserhalb des gesicherten Gebäudes kann er sich nicht bewegen, aus Sicherheitsgründen. «Das dauert exakt zwanzig Minuten. » Dann strampelt er 45 Minuten in seinem Wohnzimmer auf einem Home- Trainer. «Man lebt hier wie im Gefängnis », sagt der Richter.

Scheinnormalität

Nicht nur er lebt in Mogadischu gefährlich. Immer häufiger wird von Anschlägen oder Morden berichtet, die womöglich gar nicht auf die Rechnung der Islamisten gehen. Der Journalist Omar redet nur im Schutz der Anonymität, sein wirklicher Name ist der Redaktion bekannt. Er fürchtet Repressionen der Islamisten und der Regierung. «Manchmal wirkt die Stadt inzwischen ganz normal», sagt Omar. «Man sieht jetzt Strassenlaternen oder neu asphaltierte Strassen. Aber das ist nur die Oberfläche.» Am Vorabend wurden in seiner Nachbarschaft vier Menschen getötet. Praktisch vor seinen Augen hätten drei Soldaten einen Mann geradezu exekutiert. Eine unbeteiligte Jugendliche wurde von einem Querschläger in den Kopf getroffen und war sofort tot. Ein paar Strassen weiter sei ein Polizist von Kollegen erschossen worden, bei dem Schusswechsel starb ein weiterer Mann. «Alle Beteiligten trugen Uniformen.»

Gegen statt für das Volk

Auch Menschenrechtsorganisationen kritisieren Übergriffe der staatlichen Sicherheitskräfte gegen die Bevölkerung. Das gilt nicht zuletzt für die Medien. Unabhängige Radiostationen werden geschlossen, Journalisten werden eingeschüchtert, verhaftet, drangsaliert. Dabei steht die somalische Regierung trotz massiver internationaler Unterstützung weiterhin so wackelig auf den Beinen, dass die somalischen Bürgerinnen und Bürger praktisch keinerlei staatliche Dienstleistungen geniessen: Die Regierung kann deren Leben nicht schützen, ist mit dem Aufbau eines Gesundheits- oder Bildungswesens überfordert und lässt Somalierinnen und Somalier im Notfall von internationalen Helfern versorgen. Die wenige Kraft, die sie langsam aufbaut, scheint sie als Erstes gegen die eigenen BürgerInnen zu richten.

Der Journalist Omar denkt deshalb an Flucht. Und das, nachdem er den Bürgerkrieg mehr als zwanzig Jahre lang in Mogadischu ausgehalten hat. Aber dass nun die erste Nachkriegsregierung gegen die eigene Bevölkerung gewalttätig wird, hat ihm die letzte Hoffnung genommen. Der Richter Ilkahanaf dagegen will trotz allem bleiben. Dabei leben seine Frau und seine Kinder in London. Er selbst hat einen britischen Pass, seit er in der britischen Hauptstadt studierte. «Aber wenn wir alle aus Somalia fliehen, überlassen wir dieses Land den Terroristen», sagt er. «Und das wäre nicht gut.» Deshalb bleibt er und hofft, dass sich seine Mission eines Tages doch noch erfüllt und es wieder Gerechtigkeit gibt in Somalia.

Von Bettina Rühl