In einem kleinen braunen Backsteinhaus in Brooklyn schlägt Nilda die Zeit tot. Zwischendurch erledigt sie ein paar Telefonate für die Jobsuche und verlässt kurz das Haus, um im Büro des «Food Stamp Program» Lebensmittelmarken zu holen. Nilda gehört zur unteren Mittelschicht in New York; sie ist um die fünfzig und Puerto Ricanerin zweiter Generation. Seit einem Jahr hat sie keine Krankenversicherung mehr – seit sie wegen Herzproblemen, Krampfadern und zu hohem Blutdruck ihren Job als Sozialarbeiterin aufgeben musste.
Wie die Hälfte aller US-AmerikanerInnen profitierte sie vorher durch ihren Arbeitgeber von einem vergleichsweise guten Versicherungsschutz. Inzwischen gehört sie zu den 29 Millionen Erwachsenen ohne Krankenversicherung. Das entspricht 16 Prozent der Bevölkerung. Ein drastischer Rückgang im Vergleich zu 37 Millionen im Jahr 2010.
Schwieriger Übergang
Grund für diesen historischen Rückgang: das neue Gesundheitsgesetz, der Affordable Care Act (ACA), besser bekannt unter dem Namen Obamacare. Es ist ziemlich genau vor einem Jahr in Kraft getreten. Seither sind die meisten US-Bürgerinnen und USBürger versicherungspflichtig. Wer nicht schon durch seinen Arbeitsgeber versichert wird oder durch eines der staatlichen Unterstützungsprogramme Medicaid (für Menschen mit geringem Einkommen) sowie Medicare (für ältere und behinderte Personen) abgedeckt wird, musste sich neu versichern lassen. Für alle Nichtversicherten wurden hierzu Online-Börsen eingerichtet, die eine breite Palette privater Versicherungsmodelle anbieten. Dabei dürfen die Versicherer seit Anfang 2014 Personen nicht mehr wegen Vorerkrankungen ablehnen und die Prämien auch nicht je nach Gesundheitszustand unterschiedlich hoch ansetzen. Acht Millionen AmerikanerInnen sind durch Obamacare einer privaten Krankenversicherung beigetreten.
Die Übergangsphase verlief chaotisch. So wurden mehrere Millionen Menschen von einem Tag auf den anderen von ihrer Versicherung ausgeschlossen.
Dennoch erreicht die Gesundheitsreform noch längst nicht alle US-AmerikanerInnen. Die Übergangsphase vom alten Gesundheitssystem aufs neue System verlief chaotisch. So wurden mehrere Millionen Menschen von einem Tag auf den anderen von ihrer Versicherung ausgeschlossen, weil ihre Deckung nicht mehr den höheren Standards von Obamacare entsprach. Oder sie verloren ihren Hausarzt, weil dieser auf der Ärzteliste des neuen Versicherungsmodells nicht figurierte.
Die Geschichte von Hunter Wayne Alford hat Amerika besonders getroffen: Der siebenjährige Texaner leidet seit seiner Geburt an Krebs. Seine Versicherung war plötzlich ungültig, weil das Dossier bei der Umstellung auf Obamacare verloren ging. Die teure Chemotherapie drohte eingestellt zu werden. «Ihr Sohn könnte nur als Notfall behandelt werden, wenn er schwanger wäre und einer Beschäftigung nachginge oder sich illegal im Land aufhielte», so der Bescheid der Versicherungsgesellschaft an Hunters Mutter.
Liberalisierung des Gesundheitswesens
Als die Debatte über das Gesundheitsgesetz vor ein paar Jahren in vollem Gang war, beherrschten viele Horrorgeschichten die Medien. Sie sollten belegen, wie ineffizient und teuer das neue System sei. So der Fall von Richard James Verone, der an einem Tumor erkrankt war und unter einem Bandscheibenvorfall litt. Die Versicherung wies ihn aufgrund seiner Krankheitsgeschichte zurück. Verone sah schliesslich keinen anderen Ausweg, als sich selbst mit einem Banküberfall ins Gefängnis zu manövrieren. Denn so musste das Gefängnis seine Behandlungskosten übernehmen.
Arme und Angehörige von Haushalten mit niedrigem Einkommen fallen durch das Raster der Gesundheitsreform.
Obamacare stützt sich auf zwei Instrumente, um den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu verbessern: Zum einen sollte Medicaid, das steuerfinanzierte Gesundheitsfürsorgeprogramm für Menschen mit geringem Einkommen, ausgeweitet werden. Die Einkommensgrenze, aufgrund welcher man Anspruch auf Medicaid hat, sollte gesenkt werden. Doch liegt Medicaid in der Kompetenz der einzelnen Bundesstaaten und so haben 26 zumeist republikanisch regierte Staaten diese Ausweitung auf höhere Einkommen abgelehnt. Daher kommt es, dass viele Betroffene nicht arm genug sind, um Anspruch auf Medicaid zu haben. Für eine private Versicherung verdienen sie wiederum nicht genug. So fallen Arme und Angehörige von Haushalten mit niedrigem Einkommen durch das Raster der Gesundheitsreform.
Auf dem neuen liberalen, aber kontrollierten Markt könnte auch Nilda eine Einzelversicherung abschliessen. Je nach Leistungen gibt es deutliche Unterschiede bei den Prämien und Franchisen. Zwar sind die Prämien in New York nach Einführung des neuen Gesetzes im Schnitt um 53 Prozent gesunken, aber für Nilda bleiben sie unerschwinglich. Scott geht es nicht anders. Er lebt in Queens und hält sich mit neun kleineren Jobs über Wasser. «Selbst die billigste Prämie kann ich mir nicht leisten.» Seit einer alten Basketballverletzung hinkt er, aber er hofft, dass das Knie auch weiterhin hält und verzichtet auf eine Versicherung, obschon Obamacare Strafzahlungen für Nichtversicherte vorsieht. «Seit wann zwingt man die Leute dazu, ein Produkt zu kaufen?», murrt er. «Das ist so gar nicht amerikanisch. Und die eigentliche Diskussion über die Gesundheitskosten ist völlig versandet. Nicht die Ärzte sind teuer, sondern die Versicherungsangestellten.»
Unglaubliche Summen
Die Debatte ist nicht verstummt. Die exorbitanten Gesundheitskosten machen nach wie vor Schlagzeilen. Der Journalist Steven Brill berichtet im «Time»-Magazin über seine eigenen Erfahrungen nach einer Herzoperation und kommt zum gleichen Schluss wie Scott: «Wir haben ein System geschaffen, in dem anderthalb Millionen Menschen für die Krankenversicherungen arbeiten, und wir haben nur noch halb so viel Ärzte.» Nebenbei erwähnt er das Jahresgehalt von Steven J. Corwin, CEO des NewYork-Presbyterian Hospital, einer sogenannten gemeinnützigen Einrichtung: 3,58 Millionen US-Dollar. Der Gastroenterologe Joseph A. Nash fasst den Widerspruch bei den Krankenversicherungen so zusammen: «Für meine Familie zahle ich pro Monat 1100 Dollar Prämien. Die Franchise beträgt 11000 Dollar. Da könnte ich genauso gut keine Krankenversicherung abschliessen.»
Professor Peter Ubel, Gesundheitsexperte an der Duke University in North Carolina, sieht die Situation weniger dramatisch: «Noch ist es zu früh, um sagen zu können, wie viele Familien mit mittleren und niedrigen Einkommen von Obamacare profitieren werden. Doch es ist ein wichtiger Schritt in Richtung eines leichter zugänglichen Gesundheitswesens und damit zugunsten der Menschenrechte in den USA. Aber mir ist bewusst, dass manche Familien trotz Versicherungsdeckung Mühe haben, ihre Rechnungen zu bezahlen. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.»
Von Xavier Filliez