«Es ist immer wieder ein Schock, wie sauber die Schweiz ist», sagt Donatella Rovera, während sie ihren Rollkoffer zum Berner Hauptbahnhof zieht. Gaza, Libanon, Zentralafrikanische Republik: Seit 1990 berichtet die Frau mit der kupferroten Lockenmähne für Amnesty aus Bürgerkriegen und bewaffneten Konflikten – zuletzt oft aus Syrien, dem grossen Flächenbrand der Gegenwart. Auf dem Weg zum Gleis klingelt immer wieder ihr Handy, Rovera antwortet jedes Mal in einer anderen Sprache, ein halbes Dutzend beherrscht sie fliessend. Sie kommt gerade aus dem Nordirak, nun wird sie in den Jemen reisen. Dazwischen: zwei Tage Schweiz. Zeit für ein Interview bleibt eigentlich nicht. Wir führen das Gespräch im Morgenzug nach Genf.
Amnesty: Guten Morgen. Gut geschlafen?
Donatella Rovera: (lacht) Schlafen habe ich mir vor langer Zeit abgewöhnt. Mein Job bringt das mit sich. Aber das Leben ist ohnehin zu kurz, um es im Bett zu verbringen.
Sie reisen für Amnesty dorthin, wo es am gefährlichsten ist. Haben Sie Nerven aus Stahl?
Nein, in meinem Privatleben bin ich sogar extrem ängstlich. Wenn ich einen schlimmen Verkehrsunfall sehe, verfolgt mich eine solche Szene nächtelang in meinen Träumen. Aber im Krieg ist das anders. Natürlich sehe ich in Syrien oder dem Irak Schlimmes. Menschen tun sich in bewaffneten Konflikten das Unglaublichste an. Aber merkwürdigerweise erschüttert es mich nicht auf die gleiche Weise. Ich habe wohl einen seelischen Panzer aufgebaut, um das Grauen nicht zu nah an mich heranzulassen.
Wie gefährlich ist Ihr Beruf?
Ich arbeite mitten im Krieg, natürlich ist das gefährlich. Ich habe in Syrien viele Menschen verloren, die mir nahestanden. Ausländische Journalisten etwa, die entführt wurden oder in Assads Bombenhagel starben. Aber auch Einheimische, mit denen ich mich angefreundet habe. Kriegsreporter können zumindest entscheiden, wann sie in ein Kriegsgebiet reisen und wann sie wieder abhauen. Die Bevölkerung hat diese Wahl nicht.
Sie arbeiten wie eine Kriegsreporterin?
Ähnlich. Ich reise in Krisengebiete, um herauszubekommen, was dort passiert. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied. Ein Journalist kann schreiben: «Augenzeugen berichten, die Armee habe ein Massaker verübt.» Ich muss herausfinden, ob das auch wirklich passiert ist.
«Er lügt wie ein Augenzeuge», sagt ein russisches Sprichwort.
Ja, man kann Augenzeugen nicht immer trauen. Ich muss nach harten Beweisen suchen: Welche Zerstörungen sind in dem Dorf zu sehen? Haben Menschen Verletzungen davongetragen? Lassen sich Patronenhülsen finden?
In Syrien werden Verbrechen auch massenweise mit Handys und Kleinkameras dokumentiert. Alle paar Minuten lädt jemand im Internet neue Schreckensbilder hoch.
Ja, es ist der «Youtube-Krieg»! So nennt man den syrischen Bürgerkrieg mittlerweile. Von der ersten Stunde an wurde der Krieg auch im Internet ausgetragen. Das gab es bisher in keinem anderen Konflikt. Das Bildmaterial kann immens hilfreich sein, um Menschenrechtsverletzungen nachzuweisen. Aber man muss alles hinterfragen. Nur ein Beispiel: Vor einiger Zeit tauchte ein verwackeltes Video auf. Zwei Gefangene werden mit einer Kettensäge geköpft. Zunächst verbreitete die syrische Opposition das Video und beschuldigte Assad, später stellten Assad-Anhänger das Video ins Netz und beschuldigten die Opposition. Irgendwann kam heraus: Das Video hatte mit Syrien nichts zu tun. Die Täter waren mexikanische Drogenhändler. Selbst prominente Journalisten waren darauf hereingefallen.
Manche Videos lassen jedoch keine Zweifel, wer der Urheber ist. Der «Islamische Staat» inszeniert seine Kriegsverbrechen in Hochglanz-Ästhetik: aufwendige Kamerafahrten, Zeitlupe, dramatische Musik.
Ja, die Terrormiliz unterscheidet sich fundamental von allen anderen Gruppen. Wir sind gewohnt, dass Täter ihre Verbrechen geheim halten wollen. Beim «Islamischen Staat» trifft das Gegenteil zu. Im Nordirak haben die Kämpfer Tausende jesidische Frauen und Mädchen verschleppt, um sie als Sexsklavinnen zu missbrauchen. Statt dieses Verbrechen zu vertuschen, prahlt der «Islamische Staat» in Werbebroschüren damit. Die Gotteskrieger stellen ihre Grausamkeit zur Schau, um die Menschen in Panik zu versetzen. Und die Rechnung geht auf: Der «Islamische Staat» ist in seinem Eroberungsfeldzug auf wenig Widerstand gestossen.
Die Terrormiliz hat sich siegestrunken durch Syrien gemordet. Heute beherrscht sie die Hälfte der Staatsfläche. Können Sie in dem Land überhaupt noch arbeiten?
Ich könnte problemlos morgen nach Syrien reisen, auch in die Gebiete des «Islamischen Staats». Als Frau bin ich ja ohnehin verschleiert. Aber ich könnte derzeit nicht recherchieren. Wenn ich im Einsatz bin, falle ich stark auf: Ich filme, fotografiere, befrage Passanten. Anfangs war meine grösste Sorge, von Assads Leuten geschnappt zu werden. Doch irgendwann änderte sich die Bedrohungslage: Ich wurde bereits mehrmals von extremistischen Gruppen gefangengenommen. Einmal auch vom «Islamischen Staat». Damals, im Herbst 2013, nannte sich die Miliz noch ISIS. Ich hatte Glück, es ging gut aus.
Die Weltöffentlichkeit nahm vom «Islamischen Staat» erst Kenntnis, als seine Kämpfer im Juni 2014 die nordirakische Millionenstadt Mossul überrannten. Dort begegneten Sie der Terrormiliz erneut.
Ja, ich schmuggelte mich zwei Wochen später in die Stadt. Es war gespenstisch, wie normal alles wirkte. Zwar hatten die Gotteskrieger bereits verkündet, dass Zigaretten verboten seien und Frauen nicht mehr allein auf die Strasse dürften. Doch niemand hielt sich daran. Die Terrormiliz war mit wichtigeren Dingen beschäftigt: Vor den Moscheen standen Polizisten und ehemalige Regierungsbeamte Schlange, um «Busse» abzulegen und den neuen Machthabern Treue zu schwören. Es lief wie in allen Gebieten, die der «Islamische Staat» erobert. Zunächst versuchen die Gotteskrieger ihre Herrschaft zu festigen, danach zwingen sie der Bevölkerung ihre Regeln auf.
Der militärische Triumphzug des «Islamischen Staats» begann in Syrien. Warum konnte er dort so stark werden?
Die Gründe reichen ins Jahr 1982. Damals richtete Hafis al-Assad, der Vater des heutigen Präsidenten, ein Blutbad in der westsyrischen Stadt Hama an. Zehntausende starben. Die Stadt war eine Hochburg der Muslimbrüder. Viele Überlebende des Massakers flüchteten in die reichen Golfstaaten und machten dort gutes Geld. Als die Rebellion in Syrien losbrach, finanzierten sie vor allem islamistische Gruppen. Und dann kam noch der Krieg in Libyen: Die Nato unterstützte 2011 die Opposition im libyschen Bürgerkrieg, aber wollte nicht wahrhaben, dass unter den Rebellen die Islamisten am stärksten waren. Als Gaddafi stürzte, stellte die internationale Gemeinschaft zudem seine Waffenarsenale nicht sicher. Die Extremisten schnappten sich die Waffen und strömten nach Syrien – das veränderte den Aufstand gegen Assad fundamental.
Hätte der Westen damals den gemässigten Rebellen in Syrien zur Hilfe eilen müssen?
Als sich die syrische Opposition bewaffnet hatte, war schon alles zu spät. Eine historische Chance wurde früher verpasst! Der Arabische Frühling verlief in Syrien anders als in Libyen, wo die Menschen von der ersten Stunde an Gaddafis Sturz forderten und zu den Waffen griffen. In Syrien gingen die Menschen sehr lange friedlich auf die Strasse. Sie wollten nicht Assad stürzen, sondern nur ein paar Reformen, ein bisschen Freiheit. Damals hätte die internationale Gemeinschaft das Regime unter Druck setzen müssen. Aber die Welt schaute weg, während Assad die Proteste mit unfassbarer Gewalt zu ersticken versuchte. Ich habe es in der Millionenstadt Aleppo erlebt: Sicherheitskräfte schossen mit scharfer Munition auf unbewaffnete Demonstranten. Später machten sie Jagd auf Ärzte und Krankenpfleger, die es gewagt hatten, Verwundete zu behandeln. Oppositionelle verschwanden, ihre entstellten Leichen schmiss das Regime später in die Gassen, in denen die Toten einst gewohnt hatten. Als Warnung an Familie, Freunde und Nachbarn. Die Welt hätte sagen müssen: «Halt! Bis hierhin und nicht weiter!» Ich bin mir sicher: Assad hätte eingelenkt. Der Bürgerkrieg hätte verhindert werden können.
In Syrien zählt man rund 250 000 Tote, 11 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Dazu Libyen, Irak, Jemen – die arabische Welt versinkt in Blut und Tränen. Was soll die internationale Gemeinschaft tun?
Das weiss niemand so recht. Die internationale Gemeinschaft hat in der Vergangenheit vieles falsch gemacht, nun sollte sie wenigstens ihren Prinzipien treu bleiben. Wenn Assad in Syrien Zivilisten bombardiert, verurteilt ihn der Westen. Wenn die Verbündeten des Westens das Gleiche machen, hört man keine Kritik. In Jemen wirft Saudi-Arabien Streubomben ab, um den Einfluss des Iran zurückzudrängen – mit dem Segen der USA und vieler europäischer Staaten. Das torpediert die Glaubwürdigkeit der internationalen Gemeinschaft. Die Menschen in der Region sind nicht dumm.
Interview: Ramin M. Nowzad