Demonstranten in Genf: «Wir brauchen frische Luft!» | © Julie Jeannet
Demonstranten in Genf: «Wir brauchen frische Luft!» | © Julie Jeannet

MAGAZIN AMNESTY Flüchtlinge Unter Tag

Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Juni 2015. Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion
In Genf brodelt es. Asylsuchende gehen auf die Strasse, um gegen ihre Lebensbedingungen zu protestieren. Vor allem die Unterbringung in unterirdischen Zivilschutzanlagen macht sie wütend.

Genf, Juni 2015, «Stopp Bunker, wir sind nicht im Krieg», skandieren die Demonstrierenden, die sich auf dem Béla- Bartók-Platz eingefunden haben. Asylsuchende, aber auch Studierende und RentnerInnen sind gekommen, um ihrem Unmut Luft zu machen. Der Stein des Anstosses: die geplante Verlegung von rund vierzig Flüchtlingen aus dem Asylzentrum Foyer des Tattes im Stadtteil Vernier in unterirdische Zivilschutzanlagen. In ihrem Widerstand werden die Betroffenen von Flüchtlingsorganisationen und einigen linken Parteien unterstützt. Die Demonstrationen haben vor allem in der Westschweiz eine generelle Debatte über den Umgang mit Flüchtlingen ausgelöst.

Enge und Gestank

«Wir leben unter der Erde, zusammengepfercht, ohne Fenster, ohne Luft, ohne Sonne. Einige schon seit über einem Jahr!» «In dieser Enge ist die Gefahr der Ansteckung mit Krankheiten erhöht. Wir hatten sogar schon Fälle von Krätze», so schildern «bunkererfahrene» Asylsuchende die Lebensbedingungen unter Tag.

«Wir leben unter der Erde, zusammengepfercht,
ohne Fenster, ohne Luft, ohne Sonne.
Einige schon seit über einem Jahr!»

«Ich habe schon einmal sechs Monate in einem solchen Bunker verbracht», erzählt Redae, der momentan im Asylzentrum Foyer des Tattes wohnt. «Es war sehr hart. Wir hatten keine frische Luft, die Toiletten verstärkten den Gestank, und die Lichter waren 24 Stunden am Tag an.» Der junge Eritreer kam vor elf Monaten in die Schweiz, nach einer Reise durch den Sudan, Libyen und übers Mittelmeer. Er protestiert heute aus Solidarität und weil auch er selbst jederzeit wieder in einem solchem Bunker untergebracht werden könnte.

Die Unterbringung von Asylsuchenden in unterirdischen Räumen ist aber eigentlich nichts Neues. «Diese Anlagen wurden schon immer benutzt, wenn die Empfangszentren überfrachtet waren. Schon gegen Ende der achtziger Jahre wurde ein Schutzraum unter dem Palexpo- Ausstellungsgelände eröffnet, um die Kapazität der Empfangsstelle von Cointrin zu erhöhen», erklärt François Chamorel vom Hospice général, welches im Kanton Genf für den Empfang und die Beherbergung von Asylsuchenden zuständig ist.

Notstand?

Damals wurde das Ganze als ausserordentliche Notstandsmassnahme deklariert, die nur provisorisch angewandt werden sollte. Denn: Gemäss der nationalen Kommission zur Verhütung von Folter ist die Unterbringung von Menschen in unterirdischen Räumen eine Form von Misshandlung, wenn sie länger als drei Wochen andauert. Solche Lebensbedingungen haben schwerwiegende Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit. Dennoch: Seit Mitte 2014 greift man wieder häufiger auf diese Unterbringungsform zurück. AktivistInnen von Hilfsorganisationen fürchten eine Verharmlosung dieser Lebensumstände. «Die Wohnbedingungen der Asylsuchenden verschlechtern sich eindeutig», kritisiert Juliette Fioretta, Mitglied der Organisation Solidarité in Les Tattes.

«Die Wohnbedingungen der Asylsuchenden verschlechtern sich eindeutig.»

Der Anstieg von Asylgesuchen wird als Grund für die Notwendigkeit dieser Unterbringung angeführt. Doch gemäss den Statistiken des Staatssekretariats für Migration ist die Zahl der Asylgesuche in den Jahren 2013 und 2014 gegenüber 2012 zurückgegangen, 2015 hat sie leicht zugenommen. Ausserdem war die Zahl der Flüchtlinge in der Schweiz während der Balkankriege weit höher. 1999 wurden in der Schweiz über 47 000 Asylgesuche registriert, gegenüber 23 700 im Jahr 2014 oder den geschätzten 29 000 Gesuchen für 2015. Angesichts dieser Zahlen ist der «Bettenmangel» zunächst seltsam. Anfang des neuen Jahrtausends, als der Krieg auf dem Balkan zu Ende ging, sank die Zahl der Asylanträge. «Damals war aber Christoph Blocher Bundesrat im Justiz- und Polizeidepartement. Und er beschloss, die Finanzierung im Asylbereich massiv zu kürzen und die Beiträge an die Kantone drastisch zu senken. Diese hoben darauf viele vorbereitete Räumlichkeiten für Flüchtlinge wieder auf – daher der Platzmangel», erklären Cristina Del Biaggio und Sophie Malka von der Organisation Vivre Ensemble.

«Nur Abgewiesene»

Der Genfer Staatsrat argumentiert, dass nur abgewiesene Männer ohne Familie in Bunkern untergebracht würden. «Aufgrund der hohen Zuwanderung von Migranten müssen wir momentan auch Leute, deren Verfahren noch läuft, dort unterbringen. Aber Frauen und Familien werden nicht in solchen Quartieren einlogiert. Wir tun alles, um dies zu verhindern», sagt François Chamorel von Hospice.

Cristina Del Biaggio und Sophie Malka heben hervor, dass die Mehrheit der Asylanträge positiv beantwortet wird. Im Jahr 2014 lag die Zahl der angenommenen Asylanträge und der vorläufigen Aufnahmen bei 58 Prozent. Die Mehrheit der Menschen, die in der Schweiz ein Asylgesuch stellen, ist also auch tatsächlich schutzbedürftig. Mit dem Anstieg von angenommenen Asylanträgen sinkt auch die Zahl der Nichteintretens- Entscheide. Dies wiederum bewirkt, dass die Unterkünfte, die für Abgewiesene reserviert waren, nun doch für Gesuchstellende benutzt werden. Die mangelhafte Vorausplanung der Behörden führt dazu, «dass dieser Rückgriff auf Zivilschutzzentren mittlerweile als normal und nicht schlimm angesehen wird», so Del Biaggio und Malka.

Andere Wege

Andere Kantone, Organisationen und Private haben sich die Mühe gemacht, nach alternativen Lösungen zu suchen. Ein Beispiel gibt es aus dem Kanton Schwyz, wo rund 40 Flüchtlinge in einem Kloster untergebracht wurden. Die Flüchtlingshilfe engagiert sich dafür, dass Privatpersonen Asylsuchende bei sich zu Hause aufnehmen dürfen. In Bern haben zwei Leute das Projekt «Wegeleben» lanciert: Flüchtlinge wohnen in WGs – mit Schweizern und Schweizerinnen zusammen. Solche konstruktiven Ansätze wären für die Integration der Flüchtlinge weit sinnvoller als die Isolation unter Tag.