«Pass auf, wenn du über die Strasse gehst! Und melde dich, wenn du dort bist», rief Clementina Chéry ihrem ältesten Sohn Louis nach, der es eilig hatte auf dem Weg zur Weihnachtsparty seiner Jugendgruppe «Teens Against Violence» (Teenager gegen Gewalt). Doch das erlösende Telefon kam nicht. Louis hatte die Strasse gar nie überquert. Unweit der Familienwohnung im Bostoner Quartier Dorchester geriet der Fünfzehnjährige ins Kreuzfeuer rivalisierender Gangs. Er war auf der Stelle tot. Das war am 20. Dezember 1993. «Vor diesem Tag lebten wir den amerikanischen Traum», sagt Clementina Chéry heute im Gespräch. «Wir waren eine afroamerikanische Mittelstandsfamilie mit drei gesunden, gescheiten Kindern, einer harmonischen Ehe und vielen Zukunftsplänen. Besonders Louis wollte hoch hinaus und Wissenschaftler oder gar Präsident der USA werden. Tötungsdelikte kannten wir bloss aus den Medien. Gewalt, das betraf andere, uns doch nicht.» Dann wurde Louis völlig schuldlos auf offener Strasse abgeknallt. Und wie so oft machte die Gewalttat die ganze Familie zum Opfer. Die tödlichen Schüsse zerstörten die Ehe der Eltern, belasteten die Kindheit der Geschwister, versetzten die Mutter in Zorn gegen Gott und die Welt.
Für eine friedlichere Welt
Viele Angehörige von Getöteten fallen nach der Gewalttat in eine tiefe Depression, flüchten sich in Alkohol oder andere Drogen oder aber sie werden selber gewalttätig gegen andere oder gegen sich selbst. Auch Clementina Chéry hat diese tiefe Verzweiflung der Überlebenden gefühlt. Doch ihrer beiden anderen Kinder wegen raffte sie sich auf. Dabei halfen der gläubigen Katholikin ein verständiger Priester und auch die Erinnerung an ihren Sohn, der sich so mutig für eine friedlichere Welt eingesetzt hatte. «Ungefähr ein Jahr vor seinem Tod sass ich mit Louis im Auto, als der Radiosprecher von einem Bandenkrieg berichtete, in dem etliche Unbeteiligte tödlich getroffen wurden», erzählt Clementina Chéry. «Ich wurde so wütend, dass ich sagte, man würde dieses Gesindel am besten in ein Stadion einschliessen. So könnten sich die Verbrecher ungestört gegenseitig umbringen. Und für die Überlebenden gäbe es dann die Todesstrafe. Mein Sohn, der sich seit Langem gegen Gewalt und gegen die Todesstrafe engagierte, wurde ebenfalls heftig. Er könne es nicht glauben, dass seine eigene Mutter so etwas Unmenschliches sage, meinte er.»
Ein Ort des Heilens
Auf diesen Moment besann sich Clementina Chéry und ging daran, das Andenken ihres Sohnes zu ehren. Sie gründete, damals noch zusammen mit ihrem Mann, das Louis D. Brown Peace Institute, eine Fachstelle für Gewaltprävention. Clementina Chéry hatte keinen psychologischen Universitätsabschluss und keine kaufmännische Ausbildung, jedoch einen star- ken Willen, eine rasche Auffassungsgabe und die Fähigkeit, sich mit den richtigen Leuten zu umgeben. So baute sie ihr «Center for Healing, Teaching and Learning» auf, einen Ort des Heilens, Lehrens und Lernens. Heute arbeiten in dem frisch renovierten Friedensinstitut in Dorchester, Boston, etwa fünfzehn Personen – darunter Clementina Chérys Tochter Alexandra – in einer ganzen Reihe von Programmen. Neben Schulungsmaterial für die klassische Gewaltprävention etwa an Schulen oder in Jugendgruppen bietet das Peace Institute auch ganz praktische Dienstleistungen für die Angehörigen von Gewaltopfern an. In den ersten Tagen nach der Tat werden die existierenden Hilfsangebote für betroffene Familien koordiniert, es wird das Begräbnis des Opfers organisiert und allenfalls auch der Kontakt zu Polizei oder Anwälten hergestellt. Für die Zeit danach bietet das Friedensinstitut als Hilfe zur Selbsthilfe Einzelberatungen und Gruppenseminare an, die sich den mittel- und langfristigen Folgen der Gewalttat zuwenden. Die trauernden Familien sollen und müssen jetzt lernen, mit den gesellschaftlichen Systemen umzugehen, die fortan zu ihrem Leben gehören werden: die Strafjustiz, die Sozialdienste, die Medien. Zusätzlich soll ein vom Institut gefördertes Netzwerk den gewaltbetroffenen Menschen einen sicheren Ort bieten, um nach und nach ihre traumatische Erfahrung zu verarbeiten und das zu tun, was sich das Louis D. Brown Peace Institute auf die Fahnen geschrieben hat: Schmerz und Zorn in Stärke und soziales Engagement umwandeln.
Menschenwürde für alle
Clementina Chéry ist diesen schwierigen Weg selber gegangen. Aus der zornigen Befürworterin der Todesstrafe ist eine starke Frau geworden, die sich in Massachusetts öffentlich gegen die Todesstrafe ausgesprochen und die Legislative entsprechend beeinflusst hat. Clementina Chéry hat auch enge Verbindungen zu anderen Organisationen, die sich für die Abschaffung der Todesstrafe in den USA einsetzen. Dazu gehört auch die Bostoner Gruppe «Murder Victims’ Families for Human Rights (MVFHR)», die 2012 im Amnesty-Magazin vorgestellt worden war. Der Gründer dieser Organisation, Renny Cushing, hatte selber seinen Vater durch einen Mord verloren. Gefragt, ob sie auch an Mahnwachen gegen die Todesstrafe teilnehmen würde, zögert die engagierte Mittfünfzigerin. «Bevor ich mich da hinstellen kann, muss ich von innen her ganz geheilt sein», sagt sie. Es gebe etliche aktive Gruppen, die sich speziell für die Gefangenen in den Todeszellen einsetzten. Sie selber widme sich lieber der Verarbeitung von Traumata, um den Kreislauf der Gewalt zu brechen. In diesen Programmen sind alle willkommen: die Familien von Gewaltopfern, die Angehörigen von Gewalttätern und seit Kurzem, in einem speziellen Gefängnisseminar, auch die Täter oder Täterinnen selber. Allen gebührt in ihrem Leid die gleiche Aufmerksamkeit, alle von Gewalt Betroffenen haben ein Anrecht auf menschenwürdige Behandlung. Im Englischen heisst diese Grundhaltung «restorative justice», es ist knapp zusammengefasst eine Konflikttransformation durch Wiedergutmachung. Die für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnete Leiterin des Friedensinstituts ist überzeugt, dass sie für ihre Aufgabe von Gott auserwählt und gestärkt worden ist. 2012 liess sie sich von der religiösen Bildungseinrichtung «International Fellowship of Chaplains» berufsbegleitend zur Krisenseelsorgerin ausbilden. Doch Clementina Chéry missioniert nicht. Sie weiss, dass die Überlebenden von Gewalt ihren Weg des Heilens und Lernens auf je eigene Weise finden müssen. Und auch wenn Clementina Chéry die Bibelstellen angeben kann, die sie zu den sieben Arbeitsprinzipien des Peace Institute inspirierten, sind die Grundsätze selbst humanistisch und universell: Liebe, Eintracht, Vertrauen, Hoffnung, Mut, Gerechtigkeit, Vergebung. «Es sind simple Dinge», lächelt Clementina Chéry, «doch es ist das Einfache, das so schwer zu machen ist.»
Lotta Suter ist freischaffende Journalistin und lebte viele Jahre als Korrespondentin in den USA.
Der Trend zur Abschaffung gewinnt in den USA an Unterstützung
In den USA hat zuletzt Nebraska im Mai 2015 die Todesstrafe abgeschafft; damit sind es 19 von 50 Bundestaaten der USA. In mehreren weiteren wird sie nicht mehr vollstreckt. Massachusetts, der Bundesstaat, in welchem Boston liegt, hat die Todesstrafe 1984 abgeschafft. In Fällen, in denen bundesweit geltende Strafbestimmungen anwendbar sind, kann die Todesstrafe dennoch verhängt werden. Dies geschah dieses Jahr, als Dschochar Zarnajew wegen des Anschlags auf den Boston-Marathon zum Tod verurteilt wurde.