«Es reicht»: Balázs Szalai und Márk Kékesi (oben) teilen die Liebe zu alten Autos und den Tatendrang. © Barakonyi Szabolcs
«Es reicht»: Balázs Szalai und Márk Kékesi (oben) teilen die Liebe zu alten Autos und den Tatendrang. © Barakonyi Szabolcs

MAGAZIN AMNESTY Geschichten, die Mut machen Helfen statt hassen

Von Keno Verseck. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Dezember 2015. Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion
Mit einem Facebook-Aufruf fing alles an: In der südungarischen Stadt Szeged gründeten Freiwillige eine private Flüchtlingshilfe. Die Initiative wollte ein Zeichen gegen die stramm fremdenfeindliche Politik der Orbán-Regierung setzen – und wurde zu einem Aushängeschild für ein anderes, menschliches Ungarn.

Über die schnurgeraden Gleise kommen immer mehr Menschen, kilometerlang ist der Treck der Flüchtlinge. Junge Männer, Familien mit Kleinkindern und Säuglingen, auch Alte, manche im Rollstuhl, manche auf Krücken. Eine Afghanin mit krummem Rücken, vielleicht Anfang sechzig, schleppt sich an der Hand ihres Schwiegersohns heran und lässt sich am Strassenrand erschöpft fallen. Polizisten haben das Gelände abgesperrt und die Menschen eingekreist. Manche Flüchtlinge kauern auf dem Boden und starren reglos vor sich hin. Andere stehen geduldig vor dem Zelt, in dem das Essen ausgegeben wird. Zwei junge Männer ziehen ihre Strümpfe aus, ihre Füsse sind voller Blasen. Ein Vater hält seine fiebernde zweijährige Tochter im Arm und bittet um medizinische Hilfe. Alle halbe Stunde fährt ein Polizeibus vor und bringt Leute hierher, die irgendwo in der Gegend aufgegriffen wurden.

Freiwillige vor

Ein brach liegender Acker an der ungarisch-serbischen Grenze nahe des Dorfes Röszke in der zweiten Septemberwoche. Hunderte von Flüchtlingen, die einen Kilometer weiter südlich auf einer Eisenbahnlinie die Grenze überquert haben, warten hier darauf, dass sie in ein Aufnahmelager gebracht werden. Die Tage sind noch warm, aber die Nächte schon kühl. Manche Flüchtlinge harren hier 36 Stunden aus. Der Staat ist mit Polizei präsent, sonst mit nichts. Die Einzigen, die sich um die Ankommenden kümmern, sind freiwillige Helfer und Helferinnen. Balázs Szalai hat in einem klapprigen Kombi Dutzende Packungen mit stillem Mineralwasser hergefahren. Er steigt aus dem Wagen und blickt prüfend umher. Es ist ein desolater Anblick: Hunderte Menschen auf dem Acker, müde, hungrig, ungewaschen Ringsumher Polizei, ein paar mobile Toiletten, überall Müll. Essen und Getränke gehen langsam zur Neige. Szalai zieht sein Telefon aus der Hosentasche und wählt eine Nummer: «Wir brauchen hier dringend noch Wasser! Macht einer von euch Sandwiches? Packt auch Windeln und Decken ein!» Dann ruft er seinen Freund Márk Kékesi an. «Haben die Budapester sich gemeldet, ob sie Militärzelte, Matten und Schlafsäcke schicken können? Es ist dringend.» Anschliessend versucht er vom diensthabenden Kommandanten der Bereitschaftspolizei zu erfahren, wie es hier, am Sammelpunkt, weitergeht, aber der gibt vor, auch nichts Genaues zu wissen. Dann wieder Anrufe. Szalai telefoniert die Freiwilligen ab, fragt, wer Dienst machen könne. Zwischendurch rufen Journalisten an, wollen Interviews. Er wimmelt sie ab, verweist sie an seinen Freund Márk. Balázs Szalai und Márk Kékesi sind Mitbegründer der Flüchtlingsinitiative «MigSzol» in der südungarischen Stadt Szeged. Szalai, 34, arbeitet als Programmierer und hat eine kleine IT-Firma, Kékesi, 36, ist Sozialpsychologe und lehrt an der Universität Szeged. Das von ihnen ins Leben gerufene Projekt «MigSzol», zu Deutsch Migranten-Solidarität, ist eine der bemerkenswertesten Bürgerinitiativen in der postkommunistischen Ära Ungarns.

Unbürokratische Aktion

Mit einem Facebook-Aufruf zu praktischer Unterstützung für Flüchtlinge in Szeged fing alles an. Szalai, Kékesi und einige ihrer Freunde veröffentlichten ihn Ende Juni. Fast umgehend meldeten sich mehr als tausend UnterstützerInnen, die bereit waren, zu spenden, Lebensmittel, Getränke und Kleidung an Flüchtlinge zu verteilen oder ihnen mit Informationen zu helfen. So entstand binnen weniger Tage unbürokratisch eine grossangelegte, effektive Flüchtlingshilfe. Sie wurde schnell zu einem Symbol für ein anderes, ein menschliches Ungarn. Das offizielle Ungarn macht wie kein anderes EU-Land gegen Flüchtlinge mobil. Schutzsuchende sind im Sprachgebrauch der Regierung «aggressive Belagerer» und eine «Infektionsgefahr». Hilfe für Flüchtlinge ausserhalb von Aufnahmelagern, selbst eine minimale Notversorgung, etwa mit Trinkwasser, lehnt die Regierung explizit ab. Alle Schutzsuchenden sollen spüren, dass sie nicht willkommen sind. Ungarn solle «ungarisch» bleiben, verkündet Ministerpräsident Viktor Orbán immer wieder. Man wolle keine Vermischung mit anderen Kulturen. Im Frühjahr liess die ungarische Regierung landesweit Grossplakate mit fremdenfeindlichen, an Flüchtlinge und potenzielle EinwandererInnen gerichtete Botschaften in ungarischer Sprache kleben, beispielsweise: «Wenn du nach Ungarn kommst, darfst du den Ungarn nicht die Arbeit wegnehmen!»

Keine Märtyrer

Als Anfang Juni die ersten Plakate in Szeged geklebt wurden, waren Balázs Szalai und Márk Kékesi empört. «Wir dachten: ‹Es reicht! Nicht bei uns und nicht in unserem Namen!›», erzählen die beiden. Sie kauften weisse Farbe und Pinsel. Am 10. Juni, einem sonnigen Mittwochmorgen, zogen sie durch Szeged, übermalten die Sprüche auf den Plakaten der Regierung und schrieben darüber: «Schande!» Anschliessend stellten sie Fotos der Aktion auf eine Facebook- Seite und zeigten sich bei der Polizei an. Angeklagt wurden sie bisher nicht. «Man will wohl keine Märtyrer aus uns machen», sagen Szalai und Kékesi. Szeged liegt auf der Route vieler Flüchtlinge, die aus Richtung Serbien kommen. Die Idee einer organisierten Flüchtlingshilfe kam Szalai und vier Freunden, als die Szegeder Bahnhofsverwaltung Ende Juni nachts ihren Wartesaal für Flüchtlinge schloss – wegen an geblicher «Infektionsgefahr». Spontan beschlossen sie, den Flüchtlingen, die vor dem Bahnhof warteten, Tee, Essen und Decken zu bringen. Am nächsten Tag veröffentlichten sie ihren Facebook-Aufruf, in dem sie für konkrete Solidarität mit Flüchtlingen warben. «Zeigen wir», schrieben sie, «dass es auch in Ungarn Menschen gibt, die Flüchtlinge freundlich und offenherzig empfangen!». «Wir haben damit offenbar ein Gefühl vieler Menschen in der Stadt, aber auch anderswo in Ungarn getroffen», sagt Márk Kékesi. «Ein Gefühl der Empörung über die staatliche Hasskampagne gegen Flüchtlinge und das Gefühl, dass man ihr etwas entgegensetzen muss.»

Hunderte spenden

Die Hilfsbereitschaft war überraschend gross – binnen weniger Tage trafen Lebensmittelund Kleiderspenden von Hunderten Menschen am Szegeder Bahnhof ein, Dutzende Freiwillige meldeten sich. «Das war mehr, als wir erwartet hatten», sagt Márk Kékesi. Auch der Stadtrat half. Wohl nicht zufällig, denn Szeged wird – als einzige Grossstadt Ungarns – von einem Bürgermeister der Sozialistischen Partei regiert, der die «MigSzol»- Freiwilligengruppe unterstützt. Auch um den Preis eines Popularitätsverlustes – immerhin besagen Umfragen, dass eine deutliche Mehrheit der ungarischen Bevölkerung mit der xenophoben Flüchtlingspolitik der Orbán-Regierung einverstanden ist. Unter dieser Mehrheit ist auch eine nicht unerhebliche Anzahl von Wählern und Wählerinnen der Sozialistischen Partei. Dessen ungeachtet stellte der Szegeder Stadtrat ein mobiles Holzhaus zur Verfügung, das die «MigSzol»-Freiwilligen auf dem Bahnhofsplatz aufbauten und zu einem Anlaufpunkt für Flüchtlinge machten – mit Tee- und Kaffeeküche, Kühlschränken, Essensausgabe, Informationsdienst und mobilem Internetzugang. Der Stadtrat übernahm auch die Kosten für die Aufstellung von mobilen Toiletten und Waschbecken am Bahnhof, ausserdem überliess er der Initiative unentgeltlich mehrere Lagerräume für Lebensmittel- und Kleiderspenden.

Rund um die Uhr im Einsatz

Binnen einer Woche hatte «MigSzol» in Szeged eine private Flüchtlingshilfe organisiert, bei der am Bahnhof rund um die Uhr Freiwillige arbeiteten und mit der auch Flüchtlinge an der Grenze, unter anderem am Sammelpunkt in Röszke, versorgt werden konnten. Balázs Szalai und Márk Kékesi geraten fast ins Schwärmen, wenn sie über die grosse Hilfsbereitschaft erzählen. «Viele Leute haben den amtlichen Blödsinn von aggressiven und infektiösen Zuwanderern wohl doch nicht geglaubt », sagen sie. Anfang September am Szegeder Bahnhof. Im Holzhaus schmiert Jenifer Kovács Brote und kocht nebenbei Tee und Kaffee. Die 20-Jährige lässt sich derzeit zur Kellnerin ausbilden und arbeitet neben der Ausbildung in einer Bar. Seit zweieinhalb Monaten kommt sie mehrmals in der Woche hierher, um zu helfen. Sie ist in einem Waisenhaus aufgewachsen, ihren Vater kennt sie nicht, ihre Mutter ist obdachlos. «Vielleicht bin ich wegen meiner eigenen Geschichte offener für die Not der Flüchtlinge als andere», sagt sie. Dann fügt sie lachend hinzu: «Jedenfalls ist es doch besser, Menschen zu helfen, als seine Freizeit vor dem Fernseher zu verbringen, oder?» Jenifer arbeitet an diesem Tag zusammen mit Judit Somfai, einer 51-jährigen Sekretärin. Somfais Mann und ihre drei erwachsenen Kinder finden es gut, dass sie am Holzhaus einmal pro Woche einen Nachmittag hilft. Ansonsten spricht Judit Somfai im Kollegen- und Bekanntenkreis nicht über ihre Freiwilligenarbeit. «Von vielen weiss ich, dass sie gegen Flüchtlinge sind, und ich möchte keinen Streit», sagt sie. Hat sie Freunde verloren wegen ihrer Freiwilligenarbeit? Nein, sagt Judit Somfai, sie habe vielmehr neue Freunde gefunden. «Es ist ein gutes Gefühl, hier mit Leuten zusammen zu sein, die vielleicht sehr unterschiedlich sind, die aber ein gemeinsames humanistisches Ziel vereint.» An diesem Nachmittag kommen viele freundliche Szegeder BürgerInnen zum Holzhaus. Manche bleiben einfach nur einige Augenblicke stehen, sagen etwas Nettes, andere bringen Lebensmittel, zwei ältere Frauen schleppen grosse Plastiksäcke voller Kinderkleidung herbei – sie haben in den Schränken ihrer Enkel aufgeräumt. Nur eine Rentnerin regt sich auf. «Es wäre besser, wenn ihr armen Ungarn helfen würdet», ruft sie. In diesem Moment schlurft ein obdachloser Ungar zum Holzhaus und holt sich ein belegtes Brot, eine Flasche Wasser und einen Kaffee ab. «Auch die Obdachlosen sind hier regelmässig zu Gast», sagt Nóra Szilágyi, «wir weisen niemanden ab.»

Ein Berg aus Kleidung

Drei Wochen später an einem regnerischen Tag im September. Balázs Szalai und Márk Kékesi gehen durch die Räume einer leerstehenden Schule im dörflichen Szegeder Vorort Szentmihály. Sie dient nun als Lager für die Berge an Spenden, die im Laufe der letzten Monate in Szeged angekommen sind, aus der Stadt, aus Ungarn, auch aus dem Ausland. Helfer haben einen Teil geordnet: Kleidung für Erwachsene und Kinder, Regensachen, Schuhe, Gummistiefel, Windeln, Lebensmittel, Decken, Zelte. Aber noch immer stehen massenweise Kartons herum, deren Inhalt sortiert werden muss. Ágnes Szöke hat alles im Blick, sie führt die Inventarlisten. Die 35-Jährige ist studierte Volkswirtschaftlerin und Programmiererin, sie hat Bezahl-Apps für Mobiltelefone entwickelt und arbeitet in einer Firma für Arbeitsvermittlung. Im Juni war sie zusammen mit Szalai und Kékesi eine der MitbegründerInnen von «MigSzol». Mit Stift und Zetteln läuft sie zwischen den Kartonbergen umher, ihr Mann und ihre dreijährige Tochter spielen derweil in dem Labyrinth Verstecken. Später setzt sie sich mit Szalai und Kékesi in einen kleinen Büroraum. Die drei ziehen Bilanz und besprechen, wie es weitergehen soll. Denn inzwischen kommen kaum noch Flüchtlinge nach Szeged. Seit dem 15. September hat die ungarische Regierung die Grenze zu Serbien durch den Bau eines vier Meter hohen Zaunes und einer Stacheldrahtsperre hermetisch abriegeln lassen. Zwar greift die Polizei täglich immer noch einige Flüchtlinge auf, die den Zaun zerschneiden und nach Ungarn kommen, aber sie werden sofort in Gewahrsam genommen und in Schnellverfahren verurteilt. Die meisten Flüchtlinge nehmen inzwischen den Weg über Kroatien und Westungarn, dort, an der Grenze, werden sie von ungarischen Behörden umgehend an die österreichische Grenze gebracht. Es gibt nicht mehr viel zu tun für «MigSzol» in Szeged. Das Holzhaus am Bahnhof ist abgebaut, die Freiwilligen haben an einem Sonnabendnachmittag Abschied gefeiert – einen vorläufigen, wie Márk Kékesi sagt. Geblieben sind vielleicht 30 Leute von 350 Freiwilligen. Einige, wie Kékesi, bringen Lebensmittel und Kleidung zu Flüchtlingen nach Serbien, andere fahren an die ungarisch-kroatische Grenze, um dort zu helfen. Auch in Szeged tauchen verstreut immer wieder Flüchtlinge auf, die Lebensmittel, Kleidung und Informationen brauchen.

Ein Lackmustest

Was bleibt nach drei Monaten, in denen zumindest sie, die «MigSzol»-GründerInnen, sich fast jeden Tag mehr um Flüchtlinge als um Familie, Arbeit und Freunde gekümmert haben? Die drei schauen sich an, überlegen. «Mich hat diese Zeit verändert, ich sehe die Welt anders als vor drei Monaten», sagt Kékesi. «Für mich ist es inzwischen sehr wichtig, wer sich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis wie zu den Flüchtlingen verhält, es ist wie ein Lackmustest.» Die drei diskutieren darüber, wie viele Leute sie erreicht haben, überlegen, ob sie nur eine Initiative sind oder vielleicht schon eine Bewegung. Sie sind sich nicht sicher. Dann sagen sie: «Die Regierung konnte sich in den letzten Jahren nahezu alles erlauben, weil die Gleichgültigkeit vermeintlich so gross war. Aber mit unserer Initiative haben wir gezeigt, dass vielleicht weniger Menschen gleichgültig sind, als man glauben mag. Und wir haben gezeigt, dass sich in unserem so tief zerstrittenen Ungarn die unterschiedlichsten Leute zusammenfinden können und in der Lage sind, ihre Differenzen beiseite zu lassen, wenn es darum geht, Menschen in Not zu helfen.»

Keno Verseck ist freier Journalist mit Schwerpunkt Mittel- und Südosteuropa.