Zwei Drittel der Angriffe gegen Medienschaffende in Venezuela sind laut einer Gewerkschaft von Sicherheitskräften ausgegangen. © Federico Parra/AFP/Getty Images
Zwei Drittel der Angriffe gegen Medienschaffende in Venezuela sind laut einer Gewerkschaft von Sicherheitskräften ausgegangen. © Federico Parra/AFP/Getty Images

MAGAZIN AMNESTY Dossier Pressefreiheit Wiederbelebung der Pressefreiheit?

Von Wolf-Dieter Vogel. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von März 2016.
Die Situation der Medien in Venezuela war in den letzten Jahren von Zensur, Verstaatlichung und Gewalt gegen JournalistInnen geprägt. Nach dem Wahlsieg der Opposition schöpfen die Medienschaffenden neue Hoffnung.

Es ist ein aussergewöhnlicher Tag im venezolanischen Parlament: Der Balkon des historischen Gebäudes droht unter der schweren Last zu brechen, auch die Balustrade scheint dem Andrang kaum zu widerstehen. Dennoch drängen immer mehr Journalistinnen und Journalisten auf die Presseplätze, um der konstituierenden Versammlung des neu zusammengesetzten Abgeordnetenhauses beizuwohnen. Nach Jahren der Zensur dürfe er endlich wieder hier sein, twittert Reporter Marco Ruiz, und der oppositionelle Parlamentarier Biagio Pilieri erklärt: «Ich werde immer auf der Seite der journalistischen Zunft stehen, die von jenen geschlagen, verfolgt und gedemütigt wird, die Transparenz vorgeben und zugleich die Pressefreiheit verhindern.»

Tägliche Gewalt gegen Medienschaffende

Pilieri hat an diesem 5. Januar 2016 allen Grund zum Optimismus. Erstmals, seit der mittlerweile verstorbene Linkspolitiker Hugo Chávez vor 17 Jahren zum Staatschef gewählt worden war, hatte die regierende Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) die Parlamentswahl verloren. Nun stellt die Allianz der Oppositionellen vom «Runden Tisch der Demokratischen Einheit» (MUD) die Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Auch wenn der Chávez-Nachfolger Nicolás Maduro weiterhin im Amt bleibt, kämpfen die Wahlsieger vom MUD für ein Ende der «Bolivarianischen Revolution», mit der die chavistische Bewegung die neoliberale Wirtschaftspolitik überwinden will.

Ganz oben auf der Agenda des MUD steht der Kampf gegen die massiven Angriffe auf die Pressefreiheit. Und so senden die VolksvertreterInnen an ihrer ersten Sitzung ein deutliches Signal: Nachdem seit fünf Jahren nur ein staatlicher Sender aus dem Parlament hatte berichten dürfen, machen sie den Weg für privatwirtschaftliche und internationale Medien frei. Ein grosser Sieg für die Pressefreiheit, meint Ruiz, der auch Generalsekretär der Journalistengewerkschaft SNTP ist. Um jedoch in den Nationalpalast zu gelangen, müssen die Presseleute einen Spiessrutenlauf ertragen. «Chavistas», AnhängerInnen von Hugo Chávez, bewerfen sie mit Tomaten und Feuerwerkskörpern.

Solche Gängelungen zählen zu den eher harmlosen Attacken auf Medienschaffende. Unweit des Parlaments verprügeln zum gleichen Zeitpunkt regierungsnahe «Kollektivgruppen » zwei Reporter. Auch das ist Alltag in Venezuela. Das Institut Presse und Gesellschaft (IPYS) spricht von 934 körperlichen Aggressionen seit 2005, 7 endeten tödlich. Zwei Drittel der Angriffe seien von Sicherheitskräften ausgegangen, erklärt Gewerkschafter Ruiz. «In Venezuela können Journalisten straffrei verprügelt, ausgeraubt, bedroht, entführt, verschleppt oder verletzt werden», kritisiert er. So etwa der Fotograf Abraham Palencia. Während er 2014 die schlechte Lage in einem Gefängnis dokumentierte, beschlagnahmte ein Nationalgardist die Speicherkarte seiner Kamera und stellte klar: «Wenn du Anzeige erstattest, erwachst du morgen ohne Zunge in einem Graben.»

Aber auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter regierungsnaher Medien werden Opfer von Übergriffen. Am 20. Januar dieses Jahres töteten Unbekannte den Journalisten und Pressechef der Regierung von Caracas. Wer hinter dem Mord steckt, ist unklar. Präsident Maduro wetterte jedoch sofort gegen den politischen Gegner.

Kein Platz für Kritik

Für kritische Berichterstattung bleibt da kein Platz. Auf keiner Seite. Das bekam die Karikaturistin Rayma Suprani zu spüren. Kaum war im September 2014 ihre kritische Zeichnung über die Lage der Gesundheitsversorgung im «El Universal» erschienen, wurde Suprani gekündigt. Dabei galt die Zeitung als konservativ. Doch inzwischen mussten die Besitzer die Zeitung an eine offensichtlich der Regierung nahestehende Firma verkaufen. Die Arbeit hat sich seither grundlegend geändert, sagt Journalist Juan Alonso: «Artikel werden über Nacht umgeschrieben, sodass am Ende teilweise das exakte Gegenteil von dem dort steht, was der Autor geschrieben hat.» Ein ähnliches Schicksal ereilte mindestens 25 weitere Verlagshäuser.

Auch die Eigentümer von Globovisión veräusserten 2013 ihren Fernsehsender. Die schwierige wirtschaftliche und politische Lage sowie die Inflation hätten sie dazu gezwungen, erklären die Gründer des für die Opposition wichtigen Kanals. Für Chávez waren sie schlicht «Feinde des Heimatlandes», schliesslich hatte auch dieser Sender rechte Regimegegner beim Putsch publizistisch unterstützt. Im Gegensatz zu anderen ist Globovisión jedoch, wenn auch zurückhaltender, weiterhin mit kritischen Berichten auf Sendung.

Wessen nationale Interessen?

Wenn Konzerne das Fernseh-, Radio- und Zeitungsangebot kontrollieren und vorbehaltlos gegen eine gewählte Regierung hetzen, haben sie ihr Recht auf Meinungsfreiheit verwirkt und müssen zurückgedrängt werden. So jedenfalls argumentieren Verfechter des Mediengesetzes, das 2004 in Kraft trat. Zweifellos hat das Gesetz auch demokratische Ansätze. Es verbietet die Propagierung religiöser, politischer oder ethnischer Intoleranz und schafft den legalen Rahmen für Basisradios, die von AktivistInnen in den Armenvierteln genutzt werden. Doch in erster Linie entfaltete es seine Wirkung gegen regierungskritische Stimmen. Wer seither Amtsträger diffamiert oder den «sozialen Frieden bedroht», kann bestraft werden. Später wurden diese Regeln auch auf das Internet ausgeweitet und die Lizenzvergaben verschärft. Anbieter erhalten nur noch eine Sendegenehmigung, «wenn es den nationalen Interessen entspricht».

Eine vielfältig interpretierbare Definition. Zahlreiche Medien mussten seither ihr Programm einstellen, allein 2009 untersagte die staatliche Regulierungsstelle Conatel 34 Radiosendern den weiteren Betrieb. Internationales Aufsehen erregte die Schliessung des Senders RCTV. Die Behörden weigerten sich, die Lizenz des regierungskritischen TV-Kanals zu verlängern. Von einer Zensur wollte Chávez aber nicht sprechen: «Wir haben uns nur einige Sender zurückgeholt, die gesetzeswidrig agierten. Sie gehören jetzt nicht mehr der Bourgeoisie, sondern dem Volk.»

Der Tribun weiss, was seinem Volk guttut – an diesem machtpolitischen Credo hält auch Maduro fest. Als im Februar 2014 der kolumbianische Sender NTV24 Live-Bilder von Demonstrationen regierungskritischer Studenten in Caracas übertrug, liess er den Kabelkanal kurzerhand abschalten. Im vergangenen Jahr durften die Herausgeber der renommierten Zeitungen «Tal Cual», «La Nacional» und «La Patilla» das Land nicht verlassen, weil gegen sie ein Verfahren lief. Der Grund: Die Blätter hatten über den Verdacht berichtet, ein führender PSUV-Politiker habe Verbindungen zur Mafia.

Auch die spektakuläre Öffnung des Parlaments für die Presse hat ihr Nachspiel. Am folgenden Tag schwört Maduro seine AnhängerInnen gegen die Feinde des Volkes ein, die ihr Geld angeblich von der US-Botschaft erhalten. Und er wettert gegen zwei Fernsehkanäle, die völlig ungezügelt von der Sitzung am 5. Januar berichtet hätten. «Sie täuschen sich, meine Herren Besitzer von Globovisión und Televen, doch später wird für Reue kein Platz mehr sein», drohte er. Vielleicht aber täuscht auch er sich. Immerhin stimmte jetzt eine Mehrheit gegen die Bolivarianische Revolution. Und das, obwohl sich die Regierung alle Mühe gab, das Volk vor den Lügen des Feindes zu schützen. Ob die Wahlsieger von MUD den Medien mehr Freiheit lassen, müssen sie allerdings erst noch beweisen.

Wolf-Dieter Vogel ist Lateinamerika-Korrespondent und Publizist.