So sehen brisante Informationen aus: «Am Samstag, den 11.12.1976 führte die Gruppe 42 (Belp) der ‹Amnesty International› vor dem Coop- und Migrosmarkt in Belp eine Werbeaktion [durch]», heisst es in der «Notiz über die Werbeaktion mit Backwaren- und Kerzenverkauf». Die Bundespolizei legte dieses Schreiben in den Akten mit Informationen ab, die sie über Amnesty International – diese «Bewegung für die Meinungs- und Religionsfreiheit » – sammelte. Über 22 Jahre hinweg, von 1967 bis 1989, beobachtete die Bundespolizei das Treiben der Organisation. Es stapelten sich die Zeitungsausschnitte, Berichte von Kantonspolizisten, denunziatorische Briefe «besorgter Bürger», Kopien der Amnesty- Korrespondenz mit anderen Bundesämtern. Man bespitzelte Veranstaltungen und hörte Telefone ab. Alles, was nach Kommunismus oder Antiamerikanismus roch, wurde vor dem Hintergrund des Ost-West-Konfliktes akribisch notiert. Ziemlich aktiv wurden die Schnüffler auch, sobald es um Dienstverweigerer ging. Amnesty setzte sich damals für solche Männer ein und forderte einen zivilen Ersatzdienst.
Laufbahnen vereitelt
Aus heutiger Sicht wirkt der allergrösste Teil des gesammelten Materials eher banal oder gar amüsant. Aber täuschen wir uns nicht, die Fichen hatten direkte Auswirkungen auf viele Lebensläufe: «Einigen Tausend Landsleuten wird in diesem Herbst, wenn sie ihre Fichen gesehen haben, ein Licht aufgehen: warum du trotz bester Fachzeugnisse nie weitergekommen bist; warum es für eure Familie einfach keine städtische Wohnung gibt seit Jahrzehnten », schrieb
Die Bundespolizei bespitzelte Veranstaltungen, hörte Telefone ab, sammelte Polizeiberichte.
Max Frisch nach Auffliegen des sogenannten Fichen-Skandals. Auch der Historiker Jakob Tanner geht in seinem Buch über die Schweiz im 20. Jahrhundert davon aus, dass die Karteikärtchen so manche berufliche Laufbahn behindert haben.
Um die 700 000 Personen, Organisationen oder Ereignisse wurden damals fichiert. Die Unterlagen zur Schweizer Amnesty-Sektion sind nun im Sozialarchiv in Zürich einsehbar. Zwei graue Archivschachteln dick sind die Kopien der Fichen und die Korrespondenz, die Amnesty später geführt hat, um Einblick in das gesammelte Material zu bekommen.
Neue Technik, gleiche Gefahr
Tempi passati? Nein. «Im Licht der digitalen Revolution, die sich in den 1990er Jahren transnational durchsetzte, musste das papierene Fichen-Massiv als unzeitgemässe Monstrosität erscheinen. Der Fichen-Skandal ebnete das Terrain für Big Data», schreibt Jakob Tanner.
Die technischen Möglichkeiten der Überwachung haben sich seit der Fichen- Zeit um ein Vielfaches vergrössert. Das Motiv dahinter ist aber wohl immer noch dasselbe: Angst und ein enormes Bedürfnis nach Sicherheit. Sah man damals die Gefahr im «roten Osten», so erscheint sie nun in Gestalt des islamistischen Terrors. Niemand von uns möchte Opfer eines solch verheerenden Anschlags werden. Aber schützt uns die heutige Datensammelwut davor? Patrick Walder glaubt das nicht. Der Fachmann für das Thema Überwachung bei der Schweizer Sektion von Amnesty International erklärt: «Zwei Studien, eine der Regierung Obama und eine vom Max-Planck-Institut, kommen zum Schluss, dass Massenüberwachung nicht dazu beiträgt, Terrorangriffe zu verhindern.»
Daten auf Vorrat
Amnesty International stellt sich nicht grundsätzlich gegen Überwachung. Gibt es einen hinreichenden Verdacht gegen mutmassliche VerbrecherInnen, so soll den Strafverfolgungsbehörden dieses Mittel offen stehen. Die Überwachung muss aber gezielt, verhältnismässig und durch eine Richterin oder einen Richter bewilligt sein. Problematisch ist nach Ansicht von Amnesty International die verdachtsunabhängige Massenüberwachung, die dazu führt, dass etwa die Telefondaten von uns allen auf Vorrat gespeichert werden. Der Knackpunkt hier: Wenn wir die Daten nicht sammeln, stehen sie den Behörden bei einer Verbrechensaufklärung nicht rückwirkend zur Verfügung. «Natürlich ist es für Behörden angenehm, diese Daten zu haben. Geschieht ein Verbrechen, können sie schauen, wessen Telefon zum fraglichen Zeitpunkt in der Nähe war. Aber es gibt Studien, wonach die Quote der Verbrechensaufklärung nicht steigt, wenn Länder Daten auf Vorrat speichern», erklärt Walder.
Problematisch ist die verdachtsunabhängige Massenüberwachung, die dazu führt, dass etwa die Telefondaten von uns allen auf Vorrat gespeichert werden.
Hingegen würden solche grossen Massen an Daten immer die Gefahr in sich bergen, dass sie ausgenützt und zum Nachteil der Bevölkerung eingesetzt würden. «Alles wissen, alles sammeln: Das ist ein totalitärer Anspruch», sagt Walder. «Wir müssen uns als Gesellschaft fragen, ob wir diesen Eingriff in unsere Privatsphäre wirklich wollen. Der Schutz der Privatsphäre ist eine Grundvoraussetzung für unsere Freiheit. Ist sie bedroht, ist unsere Freiheit bedroht», sagt Walder. Er kontert die landläufige Aussage, wer nichts zu verbergen habe, der habe nichts zu befürchten. «Die Frage ist doch vielmehr: Wenn wir nichts zu verbergen haben, warum sollten wir dann durchleuchtet werden?»
Heute werden von allen Personen in der Schweiz – also auch von den Amnesty-Mitgliedern – die Kommunikations- Metadaten gesammelt. Das sind bedeutend mehr Daten als die Fichen von damals. Auch in Grossbritannien wurde Amnesty überwacht, wie die Behörden 2015 zugaben. Wann, warum und wie lange – das geben sie nicht bekannt.
Schnüffelei begrenzen
Diesen Sommer und Herbst stehen in der Schweiz wichtige Schritte hinsichtlich Überwachung an: Derzeit läuft die Unterschriftensammlung gegen das revidierte Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF). Amnesty International findet mehrere Elemente des neuen Gesetzes problematisch, etwa die Sammlung von Metadaten auf Vorrat oder den Einsatz von Trojanern, und ruft deshalb dazu auf, das Referendum zu unterschreiben: www.büpf.ch.
Über das revidierte Nachrichtendienstgesetz (NDG) stimmen wir am 25. September ab. Wird es angenommen, kann der Geheimdienst Telefon, Mail und Internet in Echtzeit überwachen, Drohnen einsetzen, Kameras in Privaträumen anbringen, geheime Hausdurchsuchungen durchführen und vieles mehr. Amnesty International empfiehlt ein Nein.