MAGAZIN AMNESTY AI-Aktiv Amnesty Indien unter Generalverdacht

Interview: Andrzej Rybak. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2016.
Menschenrechtsarbeit ist in Indien nicht einfach, NGOs wie Amnesty werden von der Regierung gegängelt. Ein Gespräch mit dem Geschäftsführer von Amnesty Indien, dem bekannten Autoren Aakar Patel.

AMNESTY: In Indien gibt es eine Tradition von friedlichen Strassenprotesten und Bürgerbewegungen. Wie ist die Menschenrechtslage heute?
Aakar Patel: Generell ist die Entwicklung positiv. Die Menschen sind besser informiert, nicht zuletzt dank der sozialen Medien. Es wird immer schwerer, ein Verbrechen geheim zu halten.

Dennoch passieren immer wieder schreckliche Dinge. Jede Minute wird in Indien eine Frau vergewaltigt.
Wir müssen die Gewalt gegen Frauen mit aller Macht bekämpfen. Es ist untragbar, dass 99 Prozent aller Vergewaltigungen in Indien nicht einmal angezeigt werden. Die Frauen schweigen, weil sie die Ehre der Familie nicht beschädigen wollen. Oder weil sie sich vor Demütigungen durch Polizeibeamte fürchten. Die Vergewaltiger kommen ungeschoren davon. Wir haben deswegen zusammen mit der Polizei in Bangalore die Aktion «Ready to report» gestartet. Wir wollen Frauen damit ermutigen, die Täter anzuzeigen.

Sie sind ein bekannter Journalist und Schriftsteller. Wie kamen Sie zu Amnesty International?
Als Journalist habe ich mich häufig mit sozialer Ungleichheit, Diskriminierung und religiöser Gewalt beschäftigt. Ich habe die Ausschreitungen zwischen Muslimen und Hindus in Mumbai 1992 erlebt. Über die Ausschreitungen 2002 im Bundesstaat Gujarat, bei denen etwa 1000 Muslime getötet wurden, habe ich ein Buch mitverfasst. Solche Ereignisse prägen einen fürs Leben.

Was sind die Schwerpunkte Ihrer Arbeit bei Amnesty?
Wir arbeiten viel in Gefängnissen, vor allem mit Häftlingen, die ohne Gerichtsverfahren inhaftiert sind. Das sind rund zwei Drittel aller indischen Häftlinge, denn unsere Gerichte sind völlig überlastet und arbeiten langsam. Manchmal warten Häftlinge jahrelang auf die Verhandlung, länger als das maximale Strafmass für ihre Taten. Es ist uns gelungen, viele solcher Häftlinge freizubekommen. Ausserdem kämpfen wir gegen die Todesstrafe, die gelegentlich noch verhängt wird.

Kann Amnesty in Indien ungehindert arbeiten?
Die Regierung geht gegen NGOs vor und schränkt deren Freiräume ein. Man wirft uns vor, den Fortschritt zu behindern. Auch Amnesty steht unter Generalverdacht. Wir versuchen, uns komplett aus indischen Spenden zu finanzieren. Das ist schwer, wir haben vor drei Jahren eine Niederlassung in Indien eröffnet und müssen das Spendernetzwerk erst aufbauen. Die institutionellen Spender unterstützen uns gern, wenn es um Menschenrechtsbildung geht. Sie wollen aber nichts mit uns zu tun haben, wenn wir gegen die Umsiedlung von Dörfern in Bergbaugebieten protestieren oder die Menschenrechtsverstösse der Armee in Kaschmir anprangern.

Hat sich die Lage seit dem Amtsantritt von Premierminister Narendra Modi verschlechtert?
Der Druck wächst. Die Regierung verweigert Amnesty-Kollegen aus dem Ausland regelmässig Arbeitsvisa. Auch werden uns Steine in den Weg gelegt, wenn wir offizielle Informationen einholen wollen. Das ist aber nichts im Vergleich zu den Verleumdungskampagnen, die Regierungspolitiker gegen andere Bürgerrechtler und Aktivistinnen betreiben.