Tagelange Proteste gegen Präsident Mubarak auf dem Tahrir-Platz in Kairo, Anfang 2011: Statt einer zivilen Regierung folgte ein Militärrat. © Amnesty International
Tagelange Proteste gegen Präsident Mubarak auf dem Tahrir-Platz in Kairo, Anfang 2011: Statt einer zivilen Regierung folgte ein Militärrat. © Amnesty International

MAGAZIN AMNESTY Buch Arabischer Frühling: Warum auf den Frühling ein Winter folgte

Von Manuela Reimann Graf. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Juni 2016.
2011 schien die arabische Welt in eine neue, demokratische Zeit aufzubrechen. In Julia Gerlachs Buch «Der verpasste Frühling» werden die Gründe, die zum Scheitern der «Arabellion» führten, anschaulich und verständlich aufgezeigt.

Was waren die Hoffnungen gross, die Erwartungen weit gesteckt, als 2011 mit dem Aufstand in Tunesien der arabische Frühling begann. Dominosteinen gleich schien ein arabisches Regime nach dem anderen zu stürzen. Die Massen besetzten die Strassen und Plätze, Bilder von jugendlichen DemonstrantInnen beherrschten die Medien, das Wort der «Arabellion» machte die Runde. Inzwischen gilt der arabische Frühling als gescheitert. Er wurde von einem harten, kalten Winter abgelöst. In Ägypten herrscht wieder das Militär, viele Aktivistinnen und Aktivisten von damals sitzen im Gefängnis. Libyen versinkt in Chaos, in Jemen und Syrien herrscht ein grausamer Krieg. Nur Tunesien scheint den Übergang in eine wackelige Demokratie geschafft zu haben.

Was ist passiert? Um dies zu verstehen, lohnt es sich, «Der verpasste Frühling » zu lesen. Die Journalistin Julia Gerlach lebte sieben Jahre in Kairo und hat für verschiedene Medien aus der Region berichtet. Der grosse Teil ihres Buches beschäftigt sich mit Ägypten. Leider widmet sie sich den anderen Ländern (Tunesien, Libyen, Jemen und Syrien) lediglich auf 49 Seiten. Doch auch diese kurzen Beschreibungen geben einen guten Einblick und ermöglichen länderübergreifende Vergleiche. Sie zeigen die Gemeinsamkeiten in den Aufständen, aber auch die Unterschiede – zum Beispiel in der geopolitische Bedeutung und der sozialen Strukturen. Eine Ergänzung des Buches mit Karten, Zeittabellen und Begriffserklärungen hätten der Übersicht allerdings gutgetan.

Die Wichtigkeit der sozialen Strukturen Ägyptens und ihrer Verflechtung mit Politik und Wirtschaft wird in Gerlachs Analyse besonders deutlich. Die von ihr wiedergegebenen Gespräche mit PolitikerInnen, Medienschaffenden, aber auch mit «einfachen Menschen von der Strasse» erlauben einen vertieften Einblick in die ägyptische Gesellschaft und ihre Spannungen. Die vielen Namen und Geschichten machen die Übersicht nicht leicht, doch lockern die Erzählungen der GesprächspartnerInnen Gerlachs die zahlreichen Fakten auf. In diesen kleinen, privaten Episoden wird deutlich, wie sehr die persönlichen und familiären Beziehungen die Gesellschaft dominieren. Welches Gewicht die Familien und ihre moralischen Regeln haben, welchem Wandel diese heute aber ausgesetzt sind. So auch im Geschlechterverhältnis, wie eine Schilderung der Fremdenführerin Dina zeigt: Als sie von einem Muslimbruder wegen ‹unziemlicher › Kleidung geschlagen wurde, wandte sie sich an die Polizei, fand dort aber keine Hilfe. «Der Täter wurde nicht gefasst, aber dafür hat sich mein Verlobter verabschiedet. Wegen des Geredes. [...] Ist eh besser so. Wozu brauche ich einen Verlobten?»

Mit solchen persönlichen Gesprächspassagen vermittelt Gerlach ein Verständnis für die Lebenswelt und die Gedanken der Menschen. Damit kann sie besser als manch anderes Sachbuch erklären, an welchen Problemen die Demokratisierungsbestrebungen gescheitert sind, wo aber auch hoffnungsvolle Entwicklungen auszumachen sind.