Brasilien steckt in einer tiefen politischen, institutionellen und ökonomischen Krise. Die Cariocas, die Einwohner Rios, haben deshalb wenig Vorfreude auf die Olympischen Spiele entwickeln können, vor allem weil sich Menschenrechtsverletzungen, Intransparenz und der Ausverkauf von Gemeineigentum fortsetzen – wie schon bei der Fussball-WM 2014.
Geld nur für die Events
Im Jahr 2013 waren Millionen Menschen in Brasilien auf die Strasse gegangen: «Wenn dein Kind krank ist, bring es doch ins Stadion», war damals einer der beliebten Slogans. Geld für den Grossevent der Fussball-Weltmeisterschaft gab es, aber keines für marode Schulen und Krankenhäuser. Auch im chaotischen öffentlichen Nahverkehr waren erneut die Preise gestiegen. Die Menschen kämpften für Teilhabe und forderten ihre wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte ein. Diese Megaevents kosten Geld. Die WM 2014 – die teuerste aller Zeiten – schlug mit über 9 Milliarden Franken zu Buche, 80 Prozent davon stammten aus öffentlichen Mitteln. Für die Olympischen Spiele 2016 in Rio sind offiziell über 10 Milliarden Franken veranschlagt, dazu kommen versteckte Kosten. Die FIFA, das Internationale Olympische Komitee (IOK) sowie das nationale Olympia-Organisationskomitee und von ihnen beauftragte Unternehmen sind von vielen Steuern befreit. Die brasilianischen Behörden kalkulieren Steuerausfälle in Höhe von mehr als 1 Milliarde Franken – etwa das Sechsfache von dem, was dem brasilianischen Fiskus bei der WM entging. Unternehmen, die im Rahmen der Olympischen Spiele tätig sind, erhalten zudem zinsgünstige Kredite von Staatsbanken, die ihr Geld aber selbst zu Marktzinsen aufnehmen – die Differenz zahlen die Bürgerinnen und Bürger. Hinzu kommen hohe Zusatzausgaben für Sicherheit.
Neben dem IOK ziehen vor allem grosse Baufirmen Gewinne aus den Spielen. Zugleich sind diese Grossfirmen mit Abstand die grössten Spender für PolitikerInnen sowie Parteien aller Farben.
Strassen und Vertreibungen
Die versprochenen volkswirtschaftlichen Positiveffekte bleiben entweder aus – dauerhafte zusätzliche Arbeitsplätze etwa entstehen nicht – oder sind kaum zu spüren. Zumindest beim öffentlichen Nahverkehr oder der Infrastruktur könnte die Allgemeinheit profitieren, auch wenn die WM dafür ein Negativbeispiel war: Fünf der zwölf WM-Stadien gingen als «Weisse Elefanten » in die Geschichte ein – milliardenteure Grossobjekte, die nach dem Event niemand mehr braucht, die von den städtischen Behörden aber kostspielig unterhalten werden müssen. Die olympischen Sportstätten in Rio sollen deshalb nach dem Wettbewerb dem Breiten- wie dem Spitzensport zugutekommen oder nach Londoner Vorbild problemlos abgebaut werden können.
Im Stadtzentrum wurden einige Strassen vom Durchgangsverkehr beruhigt, neue Strassenbahnlinien kamen hinzu und die Stadt legte vier Schnellbusstrassen an. Da diese sich mehrheitlich im Westen der Stadt befinden, verbessert sich dadurch die Verkehrsanbindung für Millionen von Cariocas in einem traditionell vernachlässigten Gebiet. Allerdings verbinden sie Flughäfen und Hotels mit Sportstätten und orientieren sich nicht an den Bedürfnissen der Bevölkerung.
Für jene neuen Schnellbusstrassen verloren viele auch ihr Heim. Und das ist nur ein Beispiel von vielen, denn insgesamt wurden Tausende von Menschen in Rio und anderen WM-Städten aus ihren Wohnungen vertrieben, ohne rechtzeitige Information oder angemessene Entschädigung.
Geld versinkt in der Kloake
Neben modernem Nahverkehr lautete das zweite Grossversprechen für Olympia 2016 eine saubere Meeresbucht. Über Jahrhunderte gepriesen ob ihrer Schönheit, ist die Bucht von Guanabara zur Kloake verkommen. Im August sollen dort die Segelwettbewerbe stattfinden. Bei der Olympia-Bewerbung hatte Rio versprochen, bis zum Beginn der Spiele die laufende Verunreinigung um 80 Prozent zu mindern. 12 Jahre und gut 1 Milliarde Franken später fliessen noch immer 18 000 Liter Abwässer ungeklärt in die Bucht – pro Sekunde.
Anti-Terror und Überwachung
Vor Olympia beschloss der Kongress das erste brasilianische Anti-Terror-Gesetz. Offenbar sass der Schock von 2013 tief, als plötzlich Millionen auf die Strasse gingen. Das Gesetz vom 16. März 2016 definiert Terrorismus sehr vage und weit, das Strafmass liegt zwischen 12 und 30 Jahren. Kritische Stimmen fürchten, dass damit jegliche politische Opposition als Straftat gewertet werden kann. Spätestens mit den Sportevents überziehen Überwachungskameras den öffentlichen Raum, der von «unerwünschten Elementen» gesäubert wird. Polizei und Militär erhalten mehr Befugnisse und rüsten bei sogenannten nichttödlichen Waffen wie Taser, Gummigeschossen, Tränengas auf. In einem Land, in dem Teile der Polizei nicht nur für schwarze junge Männer ein erhebliches Sicherheitsrisiko
darstellen, ist das keine gute Nachricht.
Jeden Tag ein Toter
Das Schicksal von Terezinha de Jesus teilen viele Mütter in Rio de Janeiro: Die Polizei hat ihren zehnjährigen Sohn erschossen, während er vor der Haustür spielte. «Sie schiessen zuerst, dann erst schauen sie, um wen es sich handelt», sagt seine Mutter, die sich seither für internationale Aufmerksamkeit engagiert und deshalb selbst schon bedroht wurde. Die Polizeigewalt ist ein allgegenwärtiges Problem in Rio. Jeden Tag wird hier mindestens ein Mensch von der Polizei getötet; 77 Prozent der Opfer sind schwarz und jünger als 30 Jahre. Ein Grossteil dieser Tötungen ereignet sich in den Favelas oder in anderen von Armut und Ausgrenzung betroffenen Siedlungen. Die Tatverantwortlichen kommen nahezu immer ungeschoren davon – die Straflosigkeit für tödliche Polizeigewalt liegt bei fast 100 Prozent.
Nun stehen die Olympischen Spiele vor der Tür und die Gewalt hat bereits wieder zugenommen. «Den Bewohnerinnen und Bewohnern von Rio wurde als Vermächtnis der Olympischen Spiele eine sichere Stadt versprochen. Stattdessen erleben sie einen Anstieg der Polizeigewalt – bis hin zu Tötungen», sagt Atila Roque, Leiter von Amnesty Brasilien.
Im Jahr 2014, als die Fussball-WM in Brasilien stattfand, tötete die Polizei 580 Menschen. Das entsprach einem Anstieg von 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr. 2015 stieg die Zahl der Opfer tödlicher Polizeigewalt sogar auf 645. Es besteht zwar kein nachweisbarer Zusammenhang zwischen der Zunahme der Tötungen durch PolizistInnen und den Vorbereitungen für die Sportevents; doch kommt es im Vorfeld dieser Luxusanlässe vermehrt zu Protesten von Unzufriedenen und damit zu Konfrontationen mit der Polizei.