Wenn man vom Flughafen Santiago ins Geschäftsviertel Providencia fährt, wird klar, warum Chile zur OECD gehört und als eine der stabilsten Demokratien Lateinamerikas gilt. Die Reise führt über moderne Stadtautobahnen in ein Quartier mit Hochhäusern aus Glas und Strassenzügen mit gepflegten Mehrfamilienhäusern. Nach der neusten Mode gekleidete Menschen sitzen in Cafés. Doch das ist nicht das Chile, von dem Toni Keppeler berichtet. Der Autor durchbricht diese oberflächlichen Realitäten und zeigt anhand der Geschichten von zwölf Frauen und Männern die Kehrseiten der wirtschaftlichen und sozialen Fortschritte des Landes.
Als einer der grössten Kupferproduzenten der Welt hängt Chiles Wirtschaft direkt von diesem Rohstoff ab. Schwankungen des Kupferpreises haben das Land in den letzten 60 Jahren immer wieder empfindlich getroffen. Das wirtschaftliche Modell Chiles ist bis heute ein Mix aus kolonialer Abhängigkeit und neoliberaler Politik. Es beeinflusst alle Bereiche des gesellschaftlichen und privaten Lebens und schafft grosse Ungleichheiten. Die demokratische Stabilität basiert auf einer Verfassung, die während der Militärdiktatur geschrieben wurde und echte Mitsprache und Pluralismus lange verhindert hat. Für den seit dem 19. Jahrhundert andauernden Konflikt mit dem grössten indigenen Volk auf chilenischem Boden, den Mapuches, gibt es bis heute von offizieller Seite kein Wille zur Lösung.
Die Ungleichheiten, die diese Realitäten bis heute hervorrufen, haben die ChilenInnen aber nicht auf sich sitzen lassen. Die Geschichte Chiles ist durchzogen von der Präsenz starker sozialer Bewegungen. Die grossen Studentenbewegungen nach 2010 haben dazu geführt, dass es eine Reform im Bildungswesen gab. Private Universitäten dürfen keine Gewinne mehr machen und müssen die Studiengebühren in den nächsten Jahren ganz abschaffen. Auch werden im Parlament heute das Projekt einer neuen Verfassung und weitere soziale Reformen diskutiert. Für Camila Vallejo, eine ehemalige und weltweit bekannte Studentenführerin und heute Abgeordnete im Parlament, ist «eine neue Verfassung aber nur der erste Schritt. Unser Horizont ist viel weiter.» Das Ziel sei, mehr soziale Gleichheit zu schaffen. Sie nimmt alle ChilenInnen in die Pflicht: «Wir stehen vor einer historischen Chance, die wir selbst geschaffen haben. Jetzt müssen wir uns darum kümmern.»
Keppeler präsentiert ein aus Reportagen zusammengesetztes Geschichtsbuch, das die zentralen Themen der Geschichte Chiles seit der Unabhängigkeit bis heute beleuchtet. Er nimmt die Sicht der benachteiligten Bevölkerungsgruppen ein und zeichnet das Bild eines Landes, dessen Erfolge auf einem fragilen Gerüst gebaut sind. Im Kopf der Leserin entstehen Bilder. Die Herausforderungen, vor denen das Land und seine Menschen stehen, werden konkret vorstellbar. «Chile in Bewegung» ist ein lesenswertes Buch für alle, die sich nicht nur an ökonomischen Kernzahlen orientieren, sondern hinter die Kulissen blicken wollen.