AMNESTY: Warum sind LGBTI-Personen besonders gefährdet während ihrer Haft?
Jean-Sébastien Blanc: LGBTI-Personen in Gefängnissen müssen weltweit Beleidigungen und Missbrauch bis hin zur physischen und psychischen Folter ertragen – durch das Gefängnispersonal ebenso wie durch Mitinhaftierte. Es gibt in der Haft kein Entkommen, kein Versteck, keinen Rückzugsort.
Wie gross ist die Gefahr genau?
Es ist natürlich sehr schwierig, genaue Daten zu erhalten. Das ist eines der entscheidenden Probleme: Wir wollen trotz mangelnder Daten die Situation von LGBTI-Personen in Haft thematisieren. Nach Angaben des US-Statistikamts werden Inhaftierte, die ihre sexuelle Orientierung als schwul, lesbisch oder bisexuell definieren, am häufigsten durch Mitinhaftierte misshandelt. Waren laut der Studie «nur» gerade 3,5 Prozent der heterosexuellen Männer von sexuellen Misshandlungen durch Mithäftlinge betroffen, traf es 34 Prozent der geouteten bisexuellen und 39 Prozent der schwulen Männer. Eine ebenso grosse Gefahr stellt aber auch das Gefängnispersonal dar. So hat beispielsweise in US-Gefängnissen das Personal die Hälfte aller Übergriffe auf LGBTI verübt, sei es in Form von physischer Gewalt, Blossstellung, Vergewaltigung oder anderen sadistischen Verhaltensweisen.
Inwieweit können die Täterinnen und Täter zur Rechenschaft gezogen werden?
Leider fast nie. Die Betroffenen zeigen die Misshandlungen nur selten an – aus Mangel an Vertrauen in den Staat oder aus Angst vor noch schlimmerer Rache durch die Angezeigten.
Welche Massnahmen wurden bereits getroffen, um Missbräuche zu verhindern?
Einige Staaten haben eine Einzelhaft zu «Schutzzwecken» eingeführt, um LGBTI vor Übergriffen durch Mitinhaftierte zu bewahren. Doch eine Einzelhaft über mehrere Wochen oder sogar Monate und Jahre ist definitiv keine Lösung. Eine derart drastische Isolation kann zu psychischen Problemen führen, deshalb ist von längerer Einzelhaft unbedingt abzuraten. Einige Länder stecken LGBTI-Personen zusammen in Zellen, diese sind allerdings häufig schlechter ausgestattet als die allgemeinen Räumlichkeiten. Eine der grössten Abteilungen dieser Art gibt es im Los Angeles County Jail mit rund 300 Häftlingen. Die Türkei will sogar ein ganzes Gefängnis bauen, ein sogenanntes «Pink Prison», was auch bei den lokalen NGOs bereits Besorgnis erregt.
Welche Auswirkungen haben denn solche separierten Einrichtungen?
Statt LGBTI vor Diskriminierung zu schützen, führen sie oft zu weiteren Problemen. In vielen Ländern bedeutet es eine zusätzliche Stigmatisierung, nicht zuletzt weil die Inhaftierten dadurch gegenüber ihrer Familie und ihrem sozialen Umfeld geoutet werden. Der Eintrag eines Aufenthalts im «Pink Prison» kann in einem von Homophobie geprägten Land eine erneute Eingliederung in den Arbeitsmarkt unmöglich machen. In manchen Ländern allerdings, in denen die Haftbedingungen insbesondere für Transgender wirklich schrecklich sind, fühlen sich LGBTI in separierten Einrichtungen einfach sicherer.
Wie ist die Situation in der Schweiz?
Man kennt weder die Zahl der LGBTIPersonen in Schweizer Gefängnissen noch die der Übergriffe auf sie. Fest steht allerdings, dass Homosexualität und Transgender in Gefängnissen noch immer Tabuthemen sind. Zudem fehlt in der Schweiz eine konkrete rechtliche Basis, die LGBTI-Personen gesetzlich vor Misshandlungen schützt. Die Überforderung der Zuständigen mit diesem sensiblen Thema ist offensichtlich. Ein Beispiel: Eine Transfrau wurde in einem Männergefängnis untergebracht, befand sich aber zu diesem Zeitpunkt bereits in einer Hormontherapie. Mit der zunehmenden Feminisierung ihres Körpers häuften sich dann auch die Diskriminierungen ihr gegenüber. Als sie deswegen für eine zeitweilige Strafaussetzung plädierte, um ihre Geschlechtsumwandlung zu vollenden, wurde ihr geantwortet, dass das «kein ernsthafter Grund» sei. Schliesslich musste sie mehrere Monate in Isolationshaft verbringen, was, wie gesagt, sehr an die Psyche geht.
Wie können LGBTI-Personen in Gefängnissen besser geschützt werden?
Ein erster Schritt ist, Politik und Behörden für das Thema zu sensibilisieren und die öffentliche Aufmerksamkeit zu erhöhen, um so nach und nach eine Bewusstseinsveränderung zu erreichen. Darüber hinaus sollte die nationale Gesetzgebung einen besonderen Schutz gegen Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und gegen Hassverbrechen beinhalten. Gesetze gegen Hassverbrechen allein sind aber nicht genug, sie müssen im Alltag auch umgesetzt werden. Dazu braucht es spezielle Trainings für die massgebenden Personen im Justizsystem ebenso wie im Strafvollzug. Dies wiederum erfordert grosse Veränderungen vor allem in Institutionen wie Gefängnissen, die für eine starke Machokultur bekannt sind. Erst solche Massnahmen können eine gewisse Sicherheit gewährleisten, so dass missbrauchte LGBTI-Menschen hoffentlich ermutigt werden, die Täter anzuklagen