Ein nebliger Samstagmorgen im Bieler Champagne-Quartier. Auf Kunstrasen tragen die Nachwuchsteams von Azzurri und Etoile ein Meisterschaftsspiel aus. Berisha, Walamba oder Lombardi heissen die 9- bis 11-jährigen Spieler und Spielerinnen, Lopez, Chaabane oder Romano die Trainer. Rund 20 Eltern verfolgen den Match. Die Teams begrüssen sich per Handschlag.
AMNESTY: Peter Junker, was leistet der Fussball für Integration?
Peter Junker: Fussball ist ein Integrationsfaktor par excellence. Jedes Wochenende finden Tausende von Matches statt, in denen Spieler aus verschiedenen Herkunftsländern, mit unterschiedlichen Sprachen, aus unterschiedlichen Schichten zusammentreffen. Leute mit türkischen Wurzeln spielen mit Kurden, Serben mit Albanern. Zwischenfälle gibt es relativ wenige. Wer einem anderen die Faust ins Gesicht rammt, wird gesperrt und verliert genau das, woran er Freude hat: Fussball. Darum halten sich die allermeisten an die Regeln. Fussball verbindet! Das ist nicht nur ein leeres Wort.
Respekt allein ist noch keine Integration.
Es geht weiter. Ich kenne viele jugendliche Spieler, deren bester Freund ein Knabe aus einem anderen Herkunftsland ist. Dann treffen sich auch ihre Familien. Das wäre über andere Alltagsbereiche kaum möglich. In vielen städtischen Gebieten haben 90 Prozent der jugendlichen Fussballer einen Migrationshintergrund und 90 Prozent sind auch «Schlüsselkinder », also ohne elterliche Betreuung nach der Schule, weil beide Eltern arbeitstätig sind.
Eine Herausforderung für die JugendtrainerInnen.
Viele sind Ansprechpersonen bei Krisen. Ich hatte einmal den Fall eines Knaben, der um den Fussballplatz herumlungerte. Es stellte sich heraus, dass er Probleme mit seinem Lehrer hatte und seit vier Wochen nicht in der Schule war. Bemerkt hatte das zu Hause niemand. Also sind wir gemeinsam zu diesem Lehrer. Die Trainer können zuhören und manchmal Lösungen einleiten. Eigentlich übersteigt dies ja das Engagement eines ehrenamtlichen Trainers, aber man lässt die Jungs eben nicht hängen.
Können die Trainerinnen und Trainer das leisten?
Das ist das grosse Problem. Wie wird man Jugendtrainer? Oft rutscht jemand über sein Kind in diese Rolle. Ob jemand Führungs- oder pädagogische Erfahrung hat, ist völlig zufällig. Bisher beschränkt sich die Trainerausbildung auf Fussballerisches – wie man ein Training leitet, vor dem Spiel eine Ansprache hält usw. Wichtiger, als einen Ball stoppen zu können, wäre aber ein Minimum an Know-how, wie man Konflikte löst. Das wäre gar nicht so aufwendig.
Wie denn?
Ich habe mit Verantwortlichen des Schweizerischen Fussballverbands gesprochen und ihnen ein Konzept geschickt, wie Trainer in einem halben Schulungstag ein gut verständliches System zum Konfliktmanagement lernen können. Es ist eine Methode, die auch an Hochschulen gelehrt wird. Die Trainer wären froh darüber. Leider habe ich bis jetzt keine Reaktion erhalten.
Geben Sie ein konkretes Beispiel.
Es gab den Fall dieses Vaters, der die Fouls seines Sohnes beklatschte. Er wurde vom Trainer seines Sohnes erst zurecht- und dann vom Platz gewiesen. Vater und Sohn verliessen den Klub und treiben ihr Unwesen nun woanders. Das hätte mit geschulter Konfliktbewältigung anders gelöst werden können.
Bei Halbzeit steht es im Bieler E-Junioren-Match 2:2. Azzurri kombiniert besser, kassiert durch Etoiles Mittelstürmerin aber zwei Kontertore. Fouls gibt es kaum, am häufigsten interveniert der Unparteiische wegen irregulärer Einwürfe. «Allez, on va gagner ce match», sagt der Azzurri-Coach zu seinem Team.
Was sagen Sie zu Klubs, die sich eine spezifische ethnische Identität geben, etwa «Azzurri», «Kosova» oder «Srbija»?
Es ist schade, dass man vor Jahren solche Klubgründungen zugelassen hat. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Ein Match des FC Kosova ist ein albanisches Volksfest und hat seinen Wert. Aber für die Integration ist es eher hinderlich, die Leute bleiben unter sich. Früher sammelten sich zum Beispiel die Italiener innerhalb traditioneller Vereine in einer Italienermannschaft. Da gab es den Austausch zwischen den Mannschaften und die Klubaktivitäten ausserhalb des Spielbetriebs.
Solche Aktivitäten wären auch integrationsfördernd.
In den Dorfklubs funktioniert das noch sehr gut. Die Mannschaften organisieren zum Beispiel eine Festwirtschaft an einem Dorffest oder die Papiersammlung. Da machen alle mit. Der Fussballklub ist für viele Migranten ein guter Einstieg ins Gemeindeleben, ähnlich wie die Feuerwehr.
Haben Mädchen und Frauen ausreichend Respekt in der «Männerwelt» Fussball?
Mädchenfussball boomt und ist auf gutem Weg. Es gibt auch verschiedene Möglichkeiten, in gemischten Mannschaften zu spielen. Was Trainerinnen und Schiedsrichterinnen betrifft, kann es durchaus Konflikte geben: Ein Vater, der auf das Feld läuft, der Spielleiterin die Pfeife wegnehmen und sie «zurück an den Herd» schicken will – das ist leider passiert.
Was sollte die öffentliche Hand tun?
Die Gemeinden leisten bereits viel: Sie stellen zum Beispiel Fussballplätze, Strom und Wasser zur Verfügung oder entlöhnen die Platzwarte. Mehr zu verlangen wäre vermessen, dem Sparhammer zum Opfer fallen darf dies aber auch nicht. Wichtig wäre, dass die meist ehrenamtliche Integrationsarbeit der Klubs zur Kenntnis genommen wird. Die J+SBeiträge an die Klubs sind für sportliche Leistungen, nicht für Integration. Das ist schade.
Auf der Bieler Champagne siegen die Azzurri dank einem späten Tor mit 3:2. Der Jubel bei den Kindern des siegreichen Teams ist gross. Die Etoile-Mannschaft ist enttäuscht, der Handshake zum Abschied ist aber eine Selbstverständlichkeit.
Der Zürcher Unternehmensberater Peter Junker ist Psychologe, Sozialpädagoge und langjähriger Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz, unter anderem zu Konfliktmanagement und Personalentwicklung. Er ist ehemaliger Fussballspieler und -trainer.