«Wenn ihr nichts verändert, wird sich nie etwas ändern»: Nasreen Sheikh feiert mit ihren Näherinnen den Frauentag. © Frank Schultze. Weitere Fotos bei Klick aufs Bild.
«Wenn ihr nichts verändert, wird sich nie etwas ändern»: Nasreen Sheikh feiert mit ihren Näherinnen den Frauentag. © Frank Schultze. Weitere Fotos bei Klick aufs Bild.

MAGAZIN AMNESTY Nepal Ein Mädchen schert aus

Von Veronika Wulf. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom August 2016.
Eine Nähmaschine, ein Fremder aus den USA und ein unbändiger Wille: Nasreen Sheikh hat es von ganz unten bis zur Unternehmerin und Frauenrechtlerin geschafft. Und das in Nepal, einem der ärmsten Länder der Welt.

Nasreen Sheikh sitzt auf dem Teppichboden in ihrer kleinen Wohnung in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu. Es ist Mitte März. Draussen knattern Mopeds durch das Touristenviertel der Millionenmetropole. Drinnen hockt Nasreen, die schmalen Arme um die Beine geschlungen, als wolle sie sich selbst festhalten. Tränen rinnen ihr über das Gesicht. «Wie kannst du mir das antun? », klagt ihre Mutter. «Wenn ich dich mit diesen Fremden im Laden sehe, dann denke ich, ich hätte dich nach der Geburt wegwerfen sollen.»

Später steht Nasreen mit einer dieser Fremden in einem kleinen Laden im Erdgeschoss, unter ihrer Wohnung. Er ist vollgestopft mit gemusterten Schals, Taschen, Kleidern und Geldbörsen in bunten Farben. Die Schaufenster sind blind vor Staub, es riecht nach Benzin und Kurkuma von den Strassenhändlern. Nasreen trägt eine traditionelle gemusterte Tunika über weiten Pluderhosen und sieht jünger aus als 24. Sie lacht laut und viel, während sie mit einer Touristin aus den USA spricht. Auf dem Ladentisch türmt sich ein Stapel Stoff aus Wolle und Pashmina. Es sind fast ein Dutzend Schals. «97 Dollar», sagt Saheen, Nasreens 19-jährige Schwester hinter dem Ladentisch. Die Touristin schluckt. «Die Produkte sind handgenäht, von Frauen, die zwangsverheiratet wurden, die kaum Geld und Chancen haben», sagt Nasreen. Mehr muss sie meist nicht sagen, um Menschen von ihrem Projekt «Local Women’s Handicrafts» zu überzeugen.

Mut und Ehrgeiz

Nasreens Geschichte ist die eines ungewöhnlichen Aufstiegs in einem der ärmsten Länder der Welt. Sie stammt aus Rajura, einem Dorf an der indisch-nepalesischen Grenze. Schon als Kind wollte sie nicht glauben, dass ein Mädchen, das kaum geschlechtsreif ist, einem Mann versprochen werden muss – auch wenn sie genau das mitansehen musste: Denn ihre ältere Schwester Yasmin wurde mit elf Jahren verlobt und mit 16 verheiratet. In Nepal sind Ehen zwischen Minderjährigen zwar verboten. Doch viele Gläubige entziehen sich den Gesetzen durch traditionelle Zeremonien. Nasreens Mutter Haleema ist tief in den Kastenregeln und im sunnitischen Islam verwurzelt. Für sie ist das Wichtigste, die Töchter an «gute» sunnitische Männer mit einem ordentlichen Einkommen zu verheiraten.

Zwei Tage nach dem Streit zwischen Mutter und Tochter hockt Haleema in Nasreens Wohnung auf dem Boden vor zwei Kochplatten und zerstösst Ingwer in einer Messingschale. Der Schimmel hat die Wände in schwärzliches Grün gefärbt. Nasreens Vater kauert in einer Ecke und starrt vor sich hin. Im Nebenzimmer sitzt ihr älterer Bruder Maghar auf einer abgewetzten Matratze zwischen Kleiderbergen. Der 33-Jährige hat die gleiche Stupsnase wie Nasreen, auf seinem linken Handgelenk leuchtet eine lange Narbe. Sie zeugt von einem Unfall, den er als Elfjähriger bei der Arbeit in einer Glühbirnenfabrik im indischen Delhi erlitt. Dann wechselte er in eine Textilfabrik, nähte Bordüren an Saris, zehn bis zwölf Stunden lang.

Vom Dorf in die Stadt

Mit 18 Jahren zog Maghar nach Kathmandu und die Familie folgte ihm nach. Sie kamen aus einem Dorf, in dem es keine Autos gab, in die Hauptstadt, in der sich der Verkehr als hupender, chaotischer Strom durch die Strassen bewegt, in der es kaum Grün gibt, dafür Abgase.

«Du kommst doch aus Amerika, kannst du mir Englisch beibringen?»

Manchmal sass Nasreen am Strassenrand und beobachtete das Treiben. Sie lebte erst drei Monate in der Stadt, als ein weisser Mann mit Schnauzer vorbeikam. Er war Mitte 50 und hatte einen Hund an der Leine. «Du kommst doch aus Amerika, kannst du mir Englisch beibringen?», fragte sie ihn und zupfte ihn am T-Shirt. Der Fremde blickte auf sie hinab. «Natürlich » antwortete er auf Nepalesisch. Leslie St. John, der Fremde, sagt heute: «Es gibt so viele bettelnde Kinder in Nepal. Ich hatte noch nie einem geholfen.»

Er lebt inzwischen in einer Pflegeeinrichtung für Parkinson-Kranke in Los Angeles. Die Krankheit hat den 67-Jährigen zurück in seine Heimat geholt, nachdem er vierzig Jahre in Asien verbracht hatte. «Nasreen war so intelligent, so aufgeweckt », erzählt er. St. John kaufte Bücher, brachte Nasreen jeden Tag Lesen, Schreiben und Englisch bei und zeigte ihr, wie man einen Computer bedient. Dann ging sie zur Schule, in Bluse und Faltenrock, St. John übernahm alle Kosten.

Für die skeptischen Eltern blieb er der Fremde. Nur ihr Bruder Maghar unterstützte Nasreen. «Wenn ich schon nicht zur Schule gehen konnte, dann sollte sie das wenigstens tun.» Maghar brachte Nasreen auch das Nähen bei. Zusammen belieferten sie für einen Hungerlohn eine Textilfabrik. Einer schwangeren Bettlerin zeigte Nasreen, wie aus Stoffbahnen schicke Röcke oder Schals werden. Das sprach sich herum, es kamen weitere Frauen. So begann 2006 Nasreens kleine Firma. Den Kern bildeten die drei Geschwister Maghar, Nasreen, Saheen, von denen erst der Bruder volljährig war. Sie verkauften anfangs nur drei verschiedene Produkte zu lächerlich niedrigen Preisen.

Nebenher beendete Nasreen die Schule und studierte mit St. Johns Hilfe Elektronik und Informationstechnologie. Doch als sie 20 wurde, intervenierte ihre Mutter: «Es ist Zeit zu heiraten.» Die Eltern hatten bereits einen Jungen aus dem Dorf ausgewählt, die Mitgift zusammengekratzt, den Hochzeitstag festgelegt. Nasreen durfte den Bräutigam vorher nicht kennenlernen, so wollte es der Brauch.

«Ich wusste, sie würde mir nichts antun. Tief in ihrem Inneren liebt sie mich.»

Doch sie weigerte sich. Die Eltern zerrten sie aus dem Laden, der Vater schlug sie, die Mutter drohte, sie umzubringen. «Ich wusste, sie würde mir nichts antun », sagt Nasreen. «Tief in ihrem Inneren liebt sie mich. Die Gesellschaft hat sie so gemacht.»

Nasreen tauchte bei Freunden unter. Erst als ihr Bruder Maghar im Dorf den Ortsvorsteher bestach, damit dieser verbreitete, Nasreen sei geisteskrank, wurde die Hochzeit abgesagt.

Im April 2015 verkaufte Nasreen gerade Taschen und Haremshosen auf einem kleinen Markt, als es plötzlich rumpelte und knirschte. Erst flog ihr das Handy aus der Hand, dann stürzte sie. Die Erde wankte noch immer, als sie sich aufrappelte. Der Laden und die Wohnung hatten Risse, die Nachbarsfamilie wurde unter ihrem Haus begraben. Immer wieder vibrierte die Erde. Es war eines der schwersten Erdbeben in der Geschichte des Landes, rund 9000 Menschen starben.

Zerstörung und Neuanfang

Drei Tage nach dem Beben nahmen sich die Geschwister ein Taxi und fuhren durch die Trümmerlandschaft in ein Dorf am Stadtrand. Aus einem einstöckigen Rohbau ragten Eisenstangen. Die Geschwister hatten damit begonnen, eine Textilfabrik zu bauen, «unsere Zukunft », sagt Nasreen. Eine Touristin aus Holland und Freunde aus Deutschland hatten ihnen ein Darlehen für das Grundstück, Baumaterial und den Lohn der Bauarbeiter gegeben. Der Schaden durch das Erdbeben betrug mehrere tausend Euro – fast so viel, wie der Laden in einem Jahr einbringt. Doch Nasreen liess sich nicht entmutigen. Die kleine Fabrik hat inzwischen zwei Stockwerke.

Heute stehen die Nähmaschinen still. Zwanzig Näherinnen sitzen in drei Reihen, manche mit Kleinkindern auf dem Schoss, und schauen zu Nasreen auf.

Sie spricht zu den Frauen über Bildung, Unabhängigkeit und Rechte. «Wenn ihr nichts verändert, wird sich nie etwas ändern», sagt sie und erhält Applaus. Nasreen bestärkt sie darin, sich als gleichwertig zu betrachten gegenüber ihren Ehemännern, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Etwa hundert Näherinnen haben Nasreen und ihre Geschwister inzwischen ausgebildet. Manche von ihnen haben sich selbstständig gemacht.

Nasreen schmiedet schon neue Pläne. Zurück im Laden holt sie einen Stapel Papier aus dem Schreibtisch. «Local Women, www.locwom.com, Nonprofit- Organisation» steht darauf. «Das ist mein neues Projekt», sagt sie strahlend: Es ist eine bezahlte Nähausbildung für benachteiligte Frauen, mit Bildungszentrum und Gesundheitsklinik. Nasreens Traum: 100 Zentren in 20 Jahren. «Aber wenn es nur eins ist, das dafür reibungslos läuft, dann ist das auch okay», sagt sie. Auf den ersten Blick klingt das Projekt verrückt, zu mächtig für die junge Frau. Doch hätte der Laden, den Nasreen jetzt führt, damals im traditionellen Grenzdorf Rajura nicht auch grössenwahnsinnig geklungen?