AMNESTY: 65 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, darunter Bürgerkriegsflüchtlinge und intern Vertriebene; dazu kommen diejenigen, die der Armut zu entfliehen suchen. Gemäss Uno-Flüchtlingskonvention gelten sie aber nicht alle als Flüchtlinge im engeren Sinn.
Alberto Achermann: Es war schon immer schwierig zu definieren, wer Schutz erhalten soll und wer nicht. Die Menschen haben meist verschiedene Gründe, weshalb sie ihr Land verlassen. In den letzten Jahren sind ausserdem Klimavertriebene dazugekommen, doch auch hier gibt es unterschiedliche Szenarien: Wenn beispielsweise aufgrund von klimatischen Veränderungen Konflikte ausbrechen, können die Fliehenden dadurch auch zu Kriegs- oder Gewaltflüchtlingen werden. Die rechtlich umstrittenste Kategorie ist die der Gewalt- oder Konfliktvertriebenen. Europa verficht traditionell die Haltung, dass dies keine Flüchtlinge im eigentlichen Sinn der Flüchtlingskonvention sind. Dennoch zeigt die Entwicklung, dass diese Menschen in den meisten Staaten Europas trotzdem Schutz erhielten. Die Schweiz hingegen schuf hier einen besonderen Status, indem diese Menschen bei uns offiziell nicht Asyl erhalten, sondern nur eine «vorläufige Aufnahme».
Wenn sich die Flüchtlingskonvention von 1951 auf viele Vertriebene der heutigen Zeit nicht anwenden lässt, müsste man sie dann nicht neu formulieren?
Sie war ja ursprünglich ein Instrument, um die Folgen des Zweiten Weltkriegs zu bewältigen, war also rückwärtsgewandt und betraf nur Flüchtlinge aus Europa und nur aufgrund von Ereignissen vor 1951. In manchen Teilen der Welt ging man aber früh weiter, so in Afrika mit dem afrikanischen Flüchtlingsabkommen. Oder auch in Lateinamerika, wo der Begriff ebenfalls weitaus grosszügiger ausgelegt wurde. Nur Europa ist dieser Tendenz nicht gefolgt. Die Konvention liesse sich durchaus zeitgemäss auslegen. Auf der anderen Seite wäre es gefährlich, gerade jetzt die Flüchtlingskonvention neu auszuhandeln, wenn man sich die politische Landschaft vor allem im Westen anschaut.
Europa reagiert mit Abschottung und Einschränkungen des Asylrechts auf die sogenannte Flüchtlingskrise.
Zunächst einmal würde ich von einer Asylkrise, nicht von einer Flüchtlingskrise sprechen. Es gibt nicht nur restriktive Tendenzen, in vielen Staaten haben Asylsuchende heute einen besseren Zugang zum Asylverfahren als früher – wenn sie erst einmal im Territorium drin sind. Und es gibt Gerichte, die das Asylrecht schützen, neben nationalen Gerichten auch den Gerichtshof der EU und den europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Andererseits stellt sich die Frage, wie Flüchtlinge überhaupt noch nach Europa gelangen können. Als Folge der erleichterten Reisemöglichkeiten und aufgrund der technischen Möglichkeiten der Staaten zu Abwehr begann sich eine Spirale der Abschottung zu drehen, wie wir sie früher nicht gekannt haben: Ausreisekontrollen, biometrischen Daten, Abfangen auf See, Abriegelung der Aussengrenzen.
Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon fordert einen «Global Compact on Migration », in dem alle Staaten eine gemeinsame Verantwortung für die weltweiten Flüchtlinge und MigrantInnen übernehmen sollen. Sehen Sie Hoffnung für ein solches Abkommen und seine Umsetzung?
Wenn die Staaten nicht kooperieren, wird die Situation nur noch schlimmer. Genau das ist ja in Europa passiert: Die Staaten sind zerstritten, jedes Land versucht seine eigene Haut zu retten. Es ist katastrophal für die Flüchtlinge, schlecht für alle. Neue Vereinbarungen sind notwendig. Die Genfer Flüchtlingskonvention regelt nur das Verhältnis zwischen dem Flüchtling und dem Aufnahmestaat und sagt wenig aus über die Pflichten zwischen den Aufnahmestaaten. Der grösste Mangel ist, dass es keinen Mechanismus für die Verteilung der Flüchtlinge gibt. Es gibt aber Erfahrungen, aus denen man lernen könnte. Ich denke da an die heute vergessen gegangenen, grossen Aktionen zur Rettung von Flüchtlingen aus Südostasien, als in einigen wenigen Jahren etwa 2,5 Millionen Flüchtlinge vor allem aus Vietnam weltweit verteilt wurden. Es hat aber auch Zeiten gegeben, in welchen die Politik völlig versagte, so im Umgang mit bosnischen Flüchtlingen: Man entwickelte ein Schutzzonenkonzept, das dann tragisch scheiterte.
Auch wenn die Uno oder Europa eine Lösung für die Flüchtlingsfrage finden würden: Was macht man mit all den anderen, die kaum je als Flüchtling anerkannt werden, die aber trotzdem den Weg in den reichen Westen suchen?
Die Industrie- und Dienstleistungsstaaten müssten aufhören, so zu tun, als ob sie keine ausländischen Arbeitskräfte benötigten. Das ist scheinheilig. In vielen Ländern werden Arbeitskräfte ja gebraucht, so zum Beispiel im südlichen Europa für die Ernte, in vielen Staaten für Hausarbeit und Pflege – ohne dass man ihnen aber legale Einreisemöglichkeiten gäbe. Man belässt sie in der Illegalität, in welcher man sie besser ausnutzen kann. Es brauchte hier den Mut für eine realistische Politik, die die Arbeitsmärkte öffnet und fair ausgestaltet – dies würde schon einiges verändern. Hierin sähe ich eine Aufgabe der Uno.
Heute stehen in Europa und auch in der Schweiz die Forderungen nach einer verstärkten Integration der Eingewanderten im Zentrum. Wobei diese Integration als eine Leistung verstanden wird, die die MigrantInnen erfüllen sollen.
Mit dieser Forderung spricht man sehr unterschiedliche Personengruppen an, so Flüchtlinge, im Familiennachzug Zugewanderte, aber auch EU-Bürger, die innerhalb Europas auf Arbeitssuche sind und das Land wechseln. Man wirft alle in einen Topf, dabei brauchte es je nachdem sehr unterschiedliche Mittel. Was mich stört: Bevor man mit einer vernünftigen Integrationspolitik überhaupt begonnen hat, kam schon der Ruf nach Zwang. Man muss den Menschen erst einmal die Möglichkeiten zur Integration geben und die Instrumente dazu bereitstellen. Denken Sie an die Leute, die in der Reinigungsbranche arbeiten und auch abends arbeiten müssen. Wann sollen die denn einen Sprachkurs besuchen? Als die Gewerkschaften mit der Reinigungsbranche einen Sprachkurs während der Arbeitszeit ermöglichten, wurden sie regelrecht überrannt.
Der Flüchtlingsbegriff
Die juristische Definition dessen, was ein Flüchtling ist, basiert auf der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. Diese Definition ist die Basis für das Recht, in einem Staat Asyl zu erhalten, wobei weitere regionale oder nationale Rechtsbestimmungen darüber hinausgehen können. Als Flüchtlinge gelten gemäss Genfer Konvention Personen, die «in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden». Solche Nachteile sind insbesondere die Bedrohung des Lebens oder der Freiheit sowie schwerwiegende physische oder psychische Gefährdungen. Diesen Status bezeichnet man als Konventionsflüchtling. Von anderen MigrantInnen unterscheiden sich Flüchtlinge durch den auf eine Verfolgung bezogenen Fluchtgrund