Gerald Hüther. © www.gerald-huether.de
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MAGAZIN AMNESTY Hand in Hand – Freundschaft, Solidarität und Menschenrechte «Man muss wieder Subjekt werden.»

Interview: Christine Newald. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Dezember 2016.
Der Hirnforscher Gerald Hüther über das, was uns zu Menschen macht und welche Rolle die Freundschaft dabei spielt.
Amnesty: Aus Ihrer Perspektive als Hirnforscher: Was ist das Verbindende zwischen den Menschen?

Gerald Hüther: Wir fangen an zu begreifen, dass es den Menschen und damit auch ein einzelnes Hirn in seiner Singularität gar nicht gibt. Das ist ein Konstrukt. Es gibt Menschen nur in Verbundenheit. Alles, was ein Mensch zeit seines Lebens lernt, lernt er von anderen. Nehmen wir ganz einfach das Erlernen der Sprache: Spracherwerb kann nur mit und durch andere passieren. Das gilt auch für Dinge wie Fahrradfahren oder das aufrechte Gehen. Wir sind in viel höherem Masse soziale Wesen, als wir uns das bisher eingestehen wollen.

Wir sind in viel höherem Masse soziale Wesen, als wir uns das bisher eingestehen wollen.

Welche Rolle spielt dabei die Empathie?

Diese Fähigkeit, zu fühlen, was ein anderer Mensch fühlt, ist wesentlich für unsere Menschwerdung. Denn ohne Einfühlungsvermögen können wir auch keine sozialen Bindungen entwickeln. Aber Empathie per se ist noch keine Qualität, sondern eine Fähigkeit, die manche Menschen auch nutzen, um andere übers Ohr zu hauen. Korrupte Investmentbanker sind extrem gut darin, sich in die Gefühlswelt ihrer Kunden hineinzuversetzen, strategisch Handlungen zu planen oder vernetzt zu denken. Auch moderne Werbestrategen müssen viel von Empathie verstehen. Empathie, Kreativität, Zusammenarbeit – das sind offenbar per se noch keine Fähigkeiten, die uns zu Menschen machen.

Wenn wir uns die Methoden des sogenannten Islamischen Staates anschauen, um Menschen zu rekrutieren – funktioniert das auch nach dem Muster, das Sie beschreiben?

Ja, die arbeiten ja besonders geschickt mit den Gefühlen. Es ist deshalb wichtig zu verstehen, dass wir nicht dadurch menschlich werden, weil wir empathiefähig sind. Wir werden dann zu Menschen, wenn wir aufhören, andere Menschen als Objekt unserer Gedanken und unserer Absichten zu benutzen. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das andere Menschen zum Objekt seiner eigenen Absichten, Vorstellungen, Bewertungen und Massnahmen machen kann. Diese bemerkenswerte Fähigkeit ist uns nicht angeboren, sie ist eine Kulturleistung. Erworben haben wir sie, weil es in der Menschheitsgeschichte immer wieder notwendig war, sich gegen Bedrohung und Krieg zu wehren und hierarchische Strukturen auszubilden. Ein Kriegsfürst muss seine Soldaten wie Objekte einsetzen, um seine Zieledurchzusetzen. Und so machen es auch Wirtschaftsbosse oder Politiker.

In Freundschaften kann man sich nur auf Subjektebene begegnen.

Das heisst, jemanden als Objekt zu betrachten, würde der Idee von Freundschaft widersprechen?

Ich kann niemandem ein Freund sein, den ich gleichzeitig bewerte und manipuliere. In Freundschaften kann man sich nur auf Subjektebene begegnen. Das ist der Zauber aller Freundschaft. Man könnte es auch umgekehrt sagen: Sie sind dann Subjekt, wenn Sie jemandem auf Augenhöhe begegnen. Das Subjekt erlebt sich als Gestalter seines Lebens. Der Vorschlag, andere Menschen nicht mehr als Objekte zu betrachten, ist ein sehr grundsätzlicher Ansatz, der fast alles in Frage stellt, was wir in unserer westlichen Gesellschaft leben.

Was wären denn Beispiele für Menschen, die sich und andere als Subjekt erleben?

Nelson Mandela – und Gandhi. Menschen, die wir bewundern, weil sie von Machthabern zu Objekten gemacht wurden und doch Mensch geblieben sind. Offenbar können Menschen aus dieser Rolle aussteigen und auch unter widrigen Umständen Subjekt bleiben. Das sind Menschen, die sich als Persönlichkeit zeigen, auch in ihrer Verletzlichkeit. Menschen, die sich denken: ‹Macht ihr das ruhig alle so, ich mache nicht mit.› Totalitäre Systeme brauchen Objekte, sonst funktionieren sie nicht. Nehmen Sie die ehemalige DDR: Da haben sich Menschen, die zu Objekten gemacht wurden, als Subjekte emanzipiert, zum Beispiel in den Montagsdemonstrationen. Man muss wieder Subjekt werden, damit man die Welt verändern kann.

Gibt es in Ihrem Verständnis die Kraft der Solidarität?

Die Kraft der Solidarität ist etwas Wunderbares und geht wohl auch damit einher, andere Menschen eher als Subjekte zu sehen. Aber totalitäre Systeme leben in erster Linie von der Angst. Und gegen Angst hilft nur eines: Vertrauen. Vertrauensbildung passiert auf drei Ebenen: Ich muss erstens das Vertrauen wieder finden, dass ich etwas tun kann, dass ich die Welt gestalten kann. Ich muss zweitens das Vertrauen zurückgewinnen, dass es andere gibt, die mir helfen – das ist die Solidarität. Und dann gibt es noch die dritte Stufe, und das ist die schwierigste: das Vertrauen, dass es wieder gut wird. Auf einer spirituellen Ebene würde das so viel bedeuten wie das Vertrauen, dass wir in dieser Welt gehalten werden.

Könnte man nicht auch die Menschenrechte als System sehen, das Halt gibt in einer zerteilten Welt?

Das ist es, was wir gerne glauben. Aber ich fürchte, Menschenrechte reichen nicht aus. Vertrauen können Sie nicht über ein rechtsstaatliches System erzeugen. Auch nicht mit einer Menschenrechtscharta. Was es braucht, ist ein Gefühl des Vertrauens. Vertrauen kann aber nur wachsen, wenn Menschen lernen, aufeinander zuzugehen. Das kann man nicht per Menschenrechtscharta einfordern oder gar anordnen. Die Menschenrechte wurden eingefordert und formuliert, um Menschen aus alten Herrschaftsstrukturen zu befreien. Die Frage, die sich heute stellt, ist aber nicht nur, wovon wir frei werden wollen, sondern wofür. Und diese Frage beantworten die Menschenrechte nicht.

Was unterscheidet Menschen, die sich als volle Persönlichkeiten entwickeln und sich in allen Facetten zeigen?

Die Resilienzforschung kommt da zu einer klaren Aussage. Man muss als Mensch zumindest einmal bedingungslos geliebt worden sein. Man muss einen Menschen getroffen haben, der wirklich an einen glaubt. Man könnte auch sagen: Man muss einmal einen Freund gefunden haben. Alle Menschen haben die gleichen Grundbedürfnisse und die gleichen Sehnsüchte. Wir wollen auch alle das Gleiche: dazugehören und verbunden sein einerseits und wachsen dürfen und frei werden andererseits. Es hat lange gedauert, bis wir das erkannt haben. Nun käme es darauf an, unser Zusammenleben so zu gestalten, dass beides möglich wird, dass wir uns in unserer Einzigartigkeit individuell entwickeln können, weil (nicht obwohl) wir als Mitglieder menschlicher Gemeinschaften miteinander verbunden sind.