Der Roman «Bilqiss» erzählt die Geschichte einer freigeistigen Frau. © Martin Furtschegger
Der Roman «Bilqiss» erzählt die Geschichte einer freigeistigen Frau. © Martin Furtschegger

MAGAZIN AMNESTY Buch Eine Scheherazade unserer Tage

Von Ulla Bein. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2017.
Ein Roman mit Witz und Tempo rechnet mit frauenverachtenden Männergesellschaften ab.

Bilqiss lebt als Frau in einem fiktiven orientalischen Land, von dem sie jedoch mit Bestimmtheit sagt, dass es dort für Frauen besser wäre, «… irgendwas anderes zu sein, vorzugsweise geflügelt». Doch sie, die immerhin einige Jahre die Schule besuchen durfte und Bildung und Poesie als wichtige Güter erachtet, fällt aus der Rolle. Während die allgegenwärtigen Sittenwächter aufpassen, dass Frauen die Burka auf die richtige Art tragen, sich nicht die Fingernägel lackieren und vor allem, dass längliche Gemüse vor dem Verkauf zerkleinert werden, damit nicht etwa erotische Konnotationen aufkommen können, durchbricht die Protagonistin die Regeln auf einem ganz anderen Niveau: Um die Ehefrau des Muezzins vor der Ächtung zu schützen, die ihr blühen würde, weil ihr Mann eines Morgens nicht aus dem alkoholbedingten Tiefschlaf zu holen ist, übernimmt Bilqiss kurzerhand dessen Stellvertretung auf dem Minarett und deklamiert den Adhan, den islamischen Gebetsruf. Doch des Frevels nicht genug. Sie nutzt die Gelegenheit und «wandelt (…) hier und da ein paar allzu doktrinäre Passagen ab…». Ihr Urteil steht bereits zu Beginn des Buches fest. Tod durch Steinigung. Das Verfahren wird aufgenommen unter reger Beteiligung des Dorfes, in dem einige BewohnerInnen offenbar über Mobiltelefone verfügen, mit denen sie Filme des Prozesses in die Welt senden. Denn dieser ist nur zu ungewöhnlich: Selbstbewusst zieht Bilqiss die Anschuldigungen ins Absurde, entlarvt die Doppelmoral der Ankläger und verteidigt sich nicht, weil sie nach ihrer Auffassung kein Unrecht begangen habe. Der Richter findet Gefallen an der Frau und ihren geistreichen Antworten und verschiebt die Urteilsverkündung von Tag zu Tag – eine Scheherazade unserer Zeit.

Kritische Haltung

Die französisch- marokkanische Autorin Saphia Azzeddine verpackt in diesen kleinen Roman viele Themen, manche nur beiläufig, manche ausführlich. Sie rechnet mit der frauenverachtenden Haltung in vielen muslimischen Männergesellschaften ab. Sie beleuchtet das Verhältnis westlicher Industrienationen und der arabisch-islamischen Welt von beiden Seiten und steht beiden Seiten durchaus kritisch gegenüber. Nicht zuletzt entlarvt sie in der Figur Leandras, einer US-amerikanischen Journalistin, den Solidartourismus als ein im Grunde egoistisches Handeln. Mit Bilqiss hat Azzeddine eine Heldin geschaffen, die nicht nur die anderen Figuren des Romans in ihren Bann zu ziehen vermag, auch die Rezensentin hat sich von ihr um den Finger wickeln lassen, ihren Esprit bewundert und dem Roman einen anderen Verlauf gewünscht. (Ja, ein bisschen erging es ihr wie Leandra.) Auch wenn seine Themen diese Vermutung eher nicht nahelegen: Der Roman ist witzig! Er hat Tempo und die Übersetzung ist stimmig. Hier und da mag er überzeichnet sein, doch «wenn ich […] Geschichten erzähle, dann spielt es keine Rolle, ob es so geschehen ist oder nicht, wichtig ist, dass ich […] etwas aus meinem Leben mitteile».