Sie sind aus hartem, etwas brüchigem schwarzem Leder, kniehoch, mit einem weiten Schaft und einer grossen silbernen Schnalle über dem Rist. Es sind weder Reit- noch Motorradstiefel. Aber sie erinnern an beides. An Pferde und grosse Motorräder. Wirklich bequem sind sie nicht. Aber ich fühle mich unbesiegbar, wenn ich sie trage. Ich werde sie halt einlaufen müssen. So behalte ich sie gleich an und ziehe sie auch auf der Treppe nicht aus. Ich stolziere in der Wohnung auf und ab, setze mich aufs Sofa, strecke meine Füsse aus und drehe sie im Licht hin und her, so dass die Schnallen aufblitzen. Ich liebe diese Stiefel. Ich weiss, das klingt idiotisch. Aber so ist es nun mal. Ich habe sie im Vorbeigehen in einem Schaufenster gesehen und diesen kleinen Zwick in der Brust verspürt. Den Bruchteil eines Augenblicks verschlug es mir den Atem. Zehn Tage lang versuchte ich, diesen Moment zu verdrängen. Die Stiefel zu vergessen. Es ist ja nicht so, dass ich barfuss gehen müsste. Dann gebe ich nach. Ich kaufe die Stiefel und bin unsinnig glücklich. Natürlich schäme ich mich für diese Koketterie. Bin ich so oberflächlich? Die Welt ist erschüttert und ich freue mich über neue Stiefel. Aber sollen wir uns denn gar nicht mehr freuen?
Ich stehe wieder auf und schreite durchs Wohnzimmer. Die Stiefel machen mir lange Schritte. Ich fühle mich stark in ihnen. Ich traue mir alles zu. In diesen Stiefeln kann ich eine Revolution anzetteln, rechtfertige ich mich vor mir selber. Oder wenigstens gegen die herrschenden Zustände demonstrieren! Ich muss über mich selber lachen.
Dann kommt V. aus seiner Werkstatt. Mit schwerem Schritt die Treppe hoch. Er schenkt sich ein Glas Wasser ein, setzt sich an den Küchentisch. Sein Gesicht ist bleich und glänzt vor Schweiss. Ich erschrecke sofort.
«Was ist los?», frage ich und setze mich zu ihm. «Ich weiss nicht», sagt er. «Ich kann nicht arbeiten.»
«Fühlst du dich nicht wohl?» Er hat eine Nierentransplantation, mehrere Herzinfarkte, Schlaganfälle und Hirnblutungen hinter sich. Unmöglich, sich um diesen Mann keine Sorgen zu machen. Auch wenn er immer noch zehn Stunden ohne Pause in der Werkstatt arbeiten, mit schwerem Gerät hantieren, Materialien herumschleppen kann. In den Jahren mit ihm bin ich gegen meinen Willen zur Expertin in medizinischen Notfällen geworden. Ich kenne die verschiedenen Notaufnahmen in der Stadt und ich weiss, was ich sagen muss, um nicht lange warten zu müssen. Ich kenne den Jargon. «Mein Herz schlug plötzlich so schnell, dass ich gar nicht mehr richtig atmen konnte», sagt er. «Ich hatte das Gefühl, es werde mir gleich schlecht. Da hab ich mir gesagt, vielleicht sollte ich jetzt besser nicht mit der Kreissäge arbeiten. Und bin nach oben gekommen.» Er trinkt sein Glas leer. «Aber jetzt geht es schon wieder.»
«Soll ich dir nicht doch ein Aspirin holen?» Bei den ersten Anzeichen eines drohenden Schlaganfalls, eines Herzinfarkts solle er gleich eine Hand voll einwerfen, hat ein Arzt gesagt. Ich stehe auf, gehe ins Bad am Ende des Flurs. Suche nach der grossen Flasche. Es ist eine Familienpackung. Als ich zurückkomme, sitzt V. mit versteinerter Miene am Tisch.
«Was hast du denn da an den Füssen?», fragt er. Etwas grob. So kenne ich ihn gar nicht.
«Oh, das? Ich hab mir heute ein Paar Stiefel gekauft.» Ich fülle sein Glas noch einmal mit Wasser. «Sie waren auch gar nicht teuer», schwindle ich. Dabei ist er doch der Letzte, der mir eine solche Freude missgönnen würde. Ich stelle das Glas vor ihn auf den Tisch, öffne die Aspirinflasche und halte sie ihm hin. Er schiebt meine Hand weg.
«Danke. Nicht mehr nötig!»
Ich verstehe nicht.
«Es sind die Stiefel!», sagt er. Er lacht vor Erleichterung. Ich verstehe immer noch nicht.
«Die Stiefel?»
«Du bist da so über meinem Kopf hin und her marschiert. Wie ein Soldat, verstehst du? Da war ich sofort wieder in diesem Keller.»
Kein Herzinfarkt! Kein Schlaganfall! Nur eine böse Erinnerung. Mehr als dreissig Jahre ist es her, dass er von Soldaten von der Strasse weg gekidnappt, in einem Keller gefangen gehalten, geschlagen, getreten, gefoltert wurde. Wie lange, das weiss er nicht mehr. Zwei Tage oder vier? «Ich habe sie zum Lachen gebracht», hat er mir erzählt. «Ich habe sie dazu gebracht, dass sie übereinander lachen. Ich habe sie dazu gebracht, dass sie den Dicken den Frosch nannten. Ich spielte sie gegeneinander aus, damit sie mich für einen Moment vergassen.»
John Lennon hat so etwas Ähnliches gesagt. «Wenn du auf Gewalt mit Gewalt reagierst, haben sie dich. Das kennen sie. Das Einzige, womit sie nicht umgehen können, ist Gewaltfreiheit – und Humor.» Aber V. muss ich nicht mit John Lennon kommen.
Nach zwei Tagen oder vier stand dann plötzlich ein Soldat in einer anderen Art von Uniform in dem Keller. «Was macht ihr denn mit dem, wer ist das?», fragte er. «Wer hat das angeordnet? » Dann wurde V. freigelassen. Kurz darauf musste er sein Land verlassen, fluchtartig und für immer. Seither erträgt er den Geruch von filterlosen Zigaretten und Marihuana nicht mehr. Und den schweren Schritt von klobigen Absätzen. Jahrelang wachte er nachts schreiend auf. Bis ihn zwei Freunde, mit denen er auf einer Bergwanderung das Zelt teilte, eine ganze Nacht lang festhielten. Amerikanische Männer, die körperliche Nähe scheuen. Sie hielten ihn fest, bis er sich beruhigt hatte. Und jedes Mal, wenn er wieder aufwachte. «Du bist hier. Du bist sicher», sagten sie. Wieder und wieder. Seither hat er keine solchen Albträume mehr. Er denkt nicht mehr oft daran. Es ist so lange her. Es ist vorbei. Aber sein Körper weiss noch alles.
Ich schaue meine Stiefel an. Erst haben sie mir den Atem verschlagen, dann ihm. Ich werde sie nie mehr tragen können, ohne an diese Soldaten zu denken.
Am nächsten Tag bringe ich sie zurück. Ich weiss auch schon, was ich mit dem Geld machen werde. Und dass ich in der Wohnung nur noch Socken trage.
Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2017.