AMNESTY: Nach dem Fall Ost-Aleppos hat die Uno-Vollversammlung eine Resolution verabschiedet, die eine Verfolgung von Kriegsverbrechen in Syrien möglich macht. Kommt diese nicht Jahre zu spät?
Carla Del Ponte: Nein. Für diese Verbrechen ist es nie zu spät. Natürlich wäre es besser gewesen, wenn man früher begonnen hätte, Wege zu finden, um den Verantwortlichen den Prozess zu machen. Aber wir haben genügend Beweise gesammelt, um der Gerechtigkeit doch noch zum Durchbruch zu verhelfen.
Sollte bei Syrien-Friedensverhandlungen die juristische Aufarbeitung der Verbrechen nicht eine viel grössere Rolle spielen?
Das sollte sie, aber leider sind Justiz und Gerechtigkeit bei diesen Verhandlungen kein Thema. Unsere Frustration ist gross: Wir ermitteln, aber wofür, wenn sich niemand damit beschäftigt, dass die Verantwortlichen vor Gericht erscheinen?
Warum ist das im Fall Syriens anders als bei den Friedensschlüssen auf dem Balkan, als Staatschefs wie Slobodan Milosevic wussten, dass sie im Visier der internationalen Strafjustiz stehen?
Die Dayton-Verhandlungen für Bosnien waren erfolgreich, weil die Amerikaner mit Milosevic verhandelten im Wissen, dass das Sondertribunal für Jugoslawien gegen ihn ermittelte. Deshalb nenne ich dieses Vorgehen immer als Vorbild für Syrien: Man muss, wenn man Frieden erreichen will, auch mit der Regierung verhandeln – das heisst, mit Präsident Bashar al-Assad.
Hat Ihre Kommission genügend Beweise, um Anklage gegen Assad zu erheben?
Ja, wir haben ausreichend Material gesammelt, um Verfahren gegen hohe politische und militärische Verantwortliche aller Seiten zu führen. Wir warten allerdings immer noch darauf, unsere Beweise einem internationalen Gerichtshof übergeben zu können. Das sollte so schnell wie möglich geschehen, denn es wäre auch ein Beitrag zu den Friedensverhandlungen.
Der Uno-Sicherheitsrat müsste den Fall Syrien an den Internationalen Strafgerichtshof überweisen. Das wird von China und Russland aber blockiert. Müssen künftig nationale Gerichte Kriegsverbrechern den Prozess machen?
Die ganze Arbeit können sie sicherlich nicht machen. Bislang finden nur in einzelnen Ländern Prozesse gegen ausländische Kämpfer statt, die sich dem «Islamischen Staat» angeschlossen haben. Da es bislang kein Staat gewagt hat, gegen hohe politische oder militärische Verantwortliche Verfahren zu eröffnen, bleibt dafür nur ein internationaler Gerichtshof.