Kein Einlass für Amnesty International: Wäre Syrien ein Haus, stünde das an der Vordertür. Die Organisation ist hier kein gern gesehener Gast. Das hatte übrigens schon unter Präsident Hafez al-Assad, dem Vater von Bashar al-Assad, Tradition. Seit 2011 erhält Amnesty nun gar keinen offiziellen Zugang mehr, trotz wiederholten Anfragen. Normalerweise reisen VertreterInnen der Organisation nur mit Erlaubnis in ein Land, bei Syrien machte Amnesty aber angesichts der Umstände Ausnahmen. Die Krisenbeauftragte der Organisation, Donatella Rovera, reiste in den ersten Jahren des Konflikts wiederholt «undercover» nach Syrien und recherchierte vor Ort. Mit dem Erstarken des selbsternannten «Islamischen Staates» (IS) und anderer bewaffneter Gruppen wurde das allerdings unmöglich.
Diana Semaan, seit zwei Jahren bei Amnesty als Syrien-Researcherin tätig, hielt sich noch 2015 in den kurdischen Gebieten im Norden auf, jetzt kann auch sie das Risiko nicht mehr eingehen. Aber wie stellt die Organisation seither Untersuchungen an? Es bleibt nichts anderes übrig, als von aussen zu recherchieren. Eine wichtige Rolle spielen heute digitale Mittel, aber die klassische Amnesty-Methode – die Befragung von Zeuginnen und Zeugen – kommt weiterhin ständig zum Zuge.
Unzählige Gespräche
«Wir befragen Flüchtlinge in den Nachbarländern, aber auch in Europa», erklärt Semaan. «Und wir kommunizieren mit Leuten, die noch immer in Syrien sind.» Die Researcherin forschte vor dem Wechsel zu Amnesty schon vier Jahre lang bei Human Rights Watch zu Syrien. Sie hat also ein grosses Kontaktnetz. Amnesty kommt ausserdem über lokale Organisationen oder über öffentliche Dokumente, etwa Artikel oder Social-Media- Beiträge, an Zeuginnen und Zeugen heran. Zum Beispiel an jene Menschen, die Auskunft gegeben haben über das Gefängnis Saydnaya, zu dem Amnesty im Februar den neusten Bericht herausgegeben hat. 84 Zeugen wurden dafür befragt, darunter ehemalige Gefangene, Wärter, Anwälte und Richter. Semaan prüft immer genau, ob diese Menschen wirklich die sind, die sie vorgeben zu sein, und tatsächlich gesehen haben, was sie behaupten.
«Wir verlassen uns nie auf nur eine einzelne Quelle», sagt die in Beirut stationierte Researcherin. «Und wenn eine Aussage nicht übereinstimmt mit dem, was mir mehrere andere Menschen über einen bestimmten Vorfall oder ein Gefängnis berichtet haben, so werde ich hellhörig.» Wichtig ist Diana Semaan zudem: «Wir nehmen nie nur eine Kriegspartei in den Fokus. Nur wenn wir die mutmasslichen Verbrechen aller Parteien untersuchen, bleiben wir glaubwürdig.» Unabhängigkeit ist in einem Konflikt wie in Syrien, in welchem viel Propaganda betrieben wird, unerlässlich. Denn heftige Angriffe auf Amnesty bleiben nie aus, wenn ein Bericht über Syrien veröffentlicht wird. Bashar al-Assad tat den Saydnaya- Bericht pauschal als Fake-News ab – und das, obwohl er wie jede Regierung zwei Wochen vor der Publikation Gelegenheit zur Stellungnahme gehabt hätte, die er nicht wahrnahm. Russische Staatsmedien führten eine regelrechte Kampagne gegen den Bericht und auch Amnesty Schweiz erhielt Zuschriften und Kommentare auf Social Media, wonach doch der ganze Bericht erlogen sei.
Fotos im Stresstest
Die Recherche muss also hiebund stichfest sein. Diana Semaan arbeitet oft mit Christoph Koettl zusammen, dessen Büro sich Tausende von Kilometern entfernt in Washington D.C. befindet. Koettl ist im Krisen- Team von Amnesty International tätig und ist Spezialist im Bereich Technologie. Erhält Semaan zum Beispiel ein Bild oder ein Video von einer Kontaktperson, schickt sie es zur Verifizierung an den Kollegen. «Wir unterziehen Fotos und Videos einem Stresstest», sagt Koettl. Zuerst prüft er, ob das Bild nicht viel älter ist, als die Quelle vorgibt. Dafür reicht eine rückwärtige Bildsuche bei Google. Dann versucht er zu lokalisieren, wo der Schauplatz genau liegt. «Manchmal können wir ihn identifizieren anhand eines Ladens oder einer Moschee, die auf dem Bild zu sehen sind und die wir von früheren Aufnahmen kennen.» Untersuchungen wie diese geben über die Glaubwürdigkeit Auskunft. Verlässliches Material kann zum Beispiel Hinweise liefern dazu, ob auch Zivilpersonen von einem Angriff betroffen waren. Koettl erinnert sich, wie er im vergangenen November in einem Video, das er in Zeitlupe abspielte, ganz kurz ein Mädchen erblickte. Ein Mädchen in den Ruinen eines Hauses, das bei einem USgeführten Angriff zerstört wurde. Dieser Angriff traf also offensichtlich nicht nur Kämpfer, sondern auch Zivilpersonen.
Koettl wertet auch Social-Media-Beiträge aus oder Satellitenbilder. Letztere sind hilfreich, um die Zerstörung von Häusern zu dokumentieren oder den genauen Standort von Gefängnissen. So auch das Militärgefängnis Saydnaya. Alleine auf solche Medien stützt sich Amnesty aber nicht. «Die Erkenntnisse, die wir gewinnen, werden immer mit Aussagen von Zeugen abgeglichen», betont Koettl. Der Technologiespezialist und sein Team helfen auch dabei, die Amnesty- Untersuchungsergebnisse mit Visualisierungen für die Öffentlichkeit fassbarer zu machen, zum Beispiel mit interaktiven Karten. «Die Grundlage dafür ist aber immer eine solide Recherche», sagt Koettl. «Die schickste Karte taugt nichts, wenn die Fakten dahinter nicht tragen.»
Für Visualisierungen arbeitet Amnesty manchmal mit externen Partnern zusammen, zum Beispiel im vergangenen Jahr mit Forensic Architecture. Das Londoner Institut baute aufgrund der Amnesty-Recherche ein 3D-Modell von Saydnaya. So konnte die Öffentlichkeit doch einen Einblick erlangen in die schreckliche Haftanstalt, in die Bashar al-Assad keine unabhängigen BeobachterInnen vorlässt.
Objektiv bleiben
Die Untersuchung des Materials ist für Koettl und sein Team, das auch bei anderen für Amnesty unzugänglichen Ländern wie Nordkorea ermittelt, allerdings oft keine leichte Aufgabe. Nach dem Giftgasangriff auf Chan Scheichun wertete die Technik-Crew von Amnesty Bilder und Videos aus, die aufeinandergestapelte Kinderleichen zeigen. Ein furchtbarer Anblick. Dass Koettl selbst nicht in Syrien im Feld ist, macht seine Arbeit zwar physisch weniger gefährlich, aber dafür zwingt es ihn manchmal zum Spagat zwischen zwei Welten. «Am Mittag untersuche ich Bilder von Leichen, abends gehe ich mit der Freundin in eine Bar etwas trinken – da prallen Gegensätze aufeinander», erklärt er.
Von der Sinnhaftigkeit seiner Arbeit bleibt der gebürtige Österreicher aber überzeugt. Auch Diana Semaan in Beirut ist mit unglaublich schwierigen Schicksalen konfrontiert. «Aber ich habe ein Ziel: Ich will Menschenrechtsverletzungen aufdecken, damit sie nicht vergessen gehen. Und ich will möglichst objektiv sein. Das hält mich am Laufen.»