Zelt an Zelt: Das Camp Souda, das in einem Graben der Stadtmauer von Chios liegt. © Giorgos Moutafis/Amnesty International
Zelt an Zelt: Das Camp Souda, das in einem Graben der Stadtmauer von Chios liegt. © Giorgos Moutafis/Amnesty International

MAGAZIN AMNESTY Frauenflüchtlinge in Griechenland Eine Oase auf der Insel der Verzweiflung

Von Julie Jeannet. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von Juni 2017.
Mangelnde Hygiene, Unsicherheit, Gewalt. Die Frauenflüchtlinge auf der Insel Chios leben unter extrem schwierigen Bedingungen. Im kleinen Zentrum Athena finden die Migrantinnen einen Platz für sich als Frauen.

Gabrielle Tan geht in den Gängen des Spitals auf der Insel Chios auf und ab. Alle Krankenpflegerinnen sind beschäftigt. Eine blonde Strähne schaut unter einer grauen Bettdecke hervor, das Spitalbett steht im Durchzug. Ein Soldat stürmt durch die Gänge. Ein Mann sitzt mit leerem Blick auf einer Bank. Wenn die griechische Sparpolitik das Gesundheitswesen nicht sowieso schon durchgerüttelt hätte – die Ankunft von Hunderttausenden MigrantInnen schiebt es definitiv an den Abgrund. Heute begleitet Gabrielle die vierfache Mutter Nastaran zu einer medizinischen Kontrolle.

Leben im Zelt

Es sind Hindernisläufe, die Gabrielle rund um die griechischen Administrationswege, um die Prozeduren mit dem Uno-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) und die lokalen Gesundheitsdienste machen muss, um «ihren Mädchen» zu helfen. Seit Beginn dieses Jahres kümmert sie sich um Frauen, die im Asylverfahren auf der Insel Chios feststecken. Die Welt scheint diese Frauen vergessen zu haben.

Sechs Kilometer von der türkischen Küste entfernt, ist die Insel zu einem Eingangstor Europas geworden. Seit Januar 2016 sind über 42 000 Personen auf der fünftgrössten Insel Griechenlands angekommen, die zuvor 53 000 EinwohnerInnen zählte. Nach dem Migrationsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei vom 20. März 2016 wurden Chios und die anderen Inseln im ägäischen Meer zu Gefängnissen unter freiem Himmel.

Alle haben Angst, in die Türkei zurückgeschickt zu werden.

Aufgrund dieses Abkommens wird jede Person, die via Türkei in *Namen geändert Griechenland ankommt, in die Türkei zurückgeschickt. Es sei denn, ihr Asylantrag wird durch Griechenland angenommen. Anfang Mai lebten auf Chios mehr als 2000 Flüchtlinge auch bei Extremtemperaturen in Zelten. Wer etwas Glück hat, bekommt einen Container als Unterkunft. Und alle haben sie Angst, in die Türkei zurückgeschickt zu werden.

Nastaran* floh mit ihrem gewalttätigen Mann aus Afghanistan. Nun will sie sich von ihm scheiden lassen. Weil er auch im Lager auf sie losging und drohte, sie mit Säure zu überschütten, lebt sie nun in einer Wohnung. Trotz der Umstände hat die gelernte Köchin immer ein Lächeln auf dem Gesicht, wenn sie durch die Tür des Frauenzentrums mit Namen «Athena » kommt, welches von Gabrielle in einer kleinen Wohnung nahe des Flüchtlingscamps von Souda eingerichtet wurde. Die Afghanin ist sofort von einer Gruppe Syrerinnen umgeben. Die kleine Zweizimmer-Wohnung mit Küche und winzigem Bad wurde in Pastellfarben frisch gestrichen, einige Möbel wirken zusammengebastelt. Pflanzen und eine Bilderwand mit Zeichnungen und Botschaften in Englisch und Arabisch geben dem Raum etwas Behaglichkeit.

Heute Morgen ist die Atmosphäre sowieso eher fröhlich. Eine junge Algerierin trägt ein Kleid, auf dem «Make today awesome» (Mach den Tag zu etwas Besonderem) geschrieben steht. Der Slogan klingt wie ein Versprechen in diesem Umfeld, wo die Hoffnung jeden Moment zusammenbrechen kann. Jenni, eine Freiwillige aus Zürich, begrüsst die Frauen mit einer Umarmung und einem lauten «Marhaba» (arabisch für Willkommen). Die Frauen tauschen ihre Schuhe mit Plastikpantoffeln. Einige machen es sich im kleinen Wohnzimmer bequem, verbinden sich mit dem Internet, trinken Kaffee und erholen sich – fern von allen männlichen Blicken. Andere warten darauf, dass sie endlich eine warme Dusche nehmen können.

Die Unsicherheit im Lager

Abgesehen von der Erholung und den Sprachkursen, die dieses kleine Zentrum bietet, erhalten die Frauen hier soziale und psychologische Hilfe. Oleya* kam am 25. März in Chios an. In eine schwarze Tunika und ein schwarzes Kopftuch gekleidet, drückt sie die Trauer um ihren Mann und einen ihrer Söhne aus, die in Syrien gestorben sind. «Dieses Zentrum ist der einzige Ort, an den ich hingehe, wenn ich mein Zelt verlasse. Ich bin so müde. Hier kann ich mich ein wenig ausruhen.»

«Es ist beschämend, immer den Vater oder den Bruder fragen zu müssen, ob er mich begleitet, wenn ich duschen will oder aufs WC muss».Amsa* aus Syrien

In den überfüllten Lagern Souda und Vial fühlen sich die Frauen nicht sicher. Die Toiletten können nicht abgeschlossen werden, es gibt kein warmes Wasser, und die Männer benützten ständig die Sanitäranlagen, die für die Frauen reserviert wären. «Es ist beschämend, immer den Vater oder den Bruder fragen zu müssen, ob er mich begleitet, wenn ich duschen will oder aufs WC muss», ärgert sich Amsa*. Die Zwanzigjährige aus al- Qamichli in Syrien musste bei Beginn des Krieges ihr Studium abbrechen. Sie kam im vergangenen September auf Chios an und hat soeben die Ablehnung ihres Asylgesuchs durch die griechischen Behörden erhalten. Die lange Zeit der Unsicherheit hat in ihrem jugendlichen Gesicht Spuren hinterlassen und sie ist wütend: «Wir sind vor der Gewalt geflohen und nun müssen wir in Griechenland würdelos dahinvegetieren. Wir werden hier nicht wie Menschen, sondern wie Zahlen behandelt. Für uns Frauen ist es am Schlimmsten, denn wir brauchen ständig Begleitschutz.»

«Das grösste Problem in den Lagern sind die mangelnde Hygiene, die Ratten und die medizinische Versorgung. Alles wird mit Aspirin behandelt.»Saliha*, Englischlehrerin aus Homs

Saliha*, eine Englischlehrerin aus Homs, kam im vergangenen August zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Bruder auf der Insel an. «Nach unserer Ankunft sagte man uns, dass wir maximal 25 Tage auf der Insel verbleiben müssen, nun warten wir aber schon seit über acht Monaten», erzählt sie. «Das grösste Problem in den Lagern sind die mangelnde Hygiene, die Ratten und die medizinische Versorgung. Alles wird mit Aspirin behandelt», erklärt sie mit zynischem Unterton. «Als ich hier ankam, war es das Athena-Zentrum, das mir half, wieder auf die Beine zu kommen. Es war für mich selbstverständlich, dass ich angefangen habe, den Frauen hier Englisch beizubringen. Sie sind für mich fast zu einer zweiten Familie geworden.»

Es war im Jahr 2015, als Gabrielle, ursprünglich Anwältin, dann beschloss, ihr Leben auf den Kopf zu stellen und den Flüchtlingen auf der Balkanroute zu helfen. Sie erstellte eine Facebook-Seite unter dem Namen Action from Switzerland und erhielt sofort Tausende Spenden. Nachdem sie Hunderte Zelte, Decken, Schlafsäcke und Lebensmittelkisten in Ungarn und Serbien verteilt hatte, ging sie den umgekehrten Weg der Flüchtlinge bis nach Chios. Auf der Insel half sie, die Flüchtlinge auf den vollkommen überladenen Booten mit heissem Tee und warmen Kleidern zu empfangen. Nach dem Abkommen der EU mit der Türkei nahm die Zahl der Neuankömmlinge drastisch ab. Also suchte Gabrielle andere Möglichkeiten, um zu helfen.

«In den Camps kriegte ich die schrecklichen Erfahrungen mit, die die Frauen machen mussten: So drang beispielsweise ein Mann in ein Zelt ein und packte eine Jugendliche. Die Frauen wurden auf den Toiletten ständig belästigt», erinnert sie sich. «Also schlug ich acht Frauen, die ich gut kannte, vor, einen Raum zu mieten, in dem sie sich sicher fühlen sollten. Ein Ort, den sie als Heim ausserhalb des Lagers betrachten durften.» Die Kunde vom kleinen Zentrum, das nach der griechischen Göttin der Weisheit, Athene, benannt ist, machte unter den Frauen rasch die Runde. Seit seiner Eröffnung im Juli 2016 haben es rund 4000 Frauen und Mädchen ab 13 Jahren genutzt.

Alltag der Gewalt

Die Camps bieten nicht gerade den geeigneten Ort, um sich von Krieg und Verfolgung zu erholen. Im November 2016 haben rechtsextreme Gruppierungen Steine und Molotow-Cocktails auf das Souda-Lager geworfen. Mehrere Personen wurden verletzt und eine im dritten Monat schwangere Frau verlor ihr Kind. Ausserdem brechen immer wieder Schlägereien aus. Am 30. März wurde ein 29-jähriger Syrer Opfer eines Feuers im Lager Vial. In dieser Atmosphäre des Wartens und der Ungewissheit sind die Frauen vielfältigen Gewaltformen ausgesetzt:

Die Camps bieten nicht gerade den geeigneten Ort, um sich von Krieg und Verfolgung zu erholen.

Vergewaltigungsversuche, Diebstahl, häusliche Gewalt, Menschenhandel, Aggression und Einschüchterung. «Ich versuche, die verletzlichsten Personen herauszufiltern, so vor allem alleinerziehende Mütter, unbegleitete Minderjährige, Schwangere und Behinderte», erklärt die Gründerin des Frauenzentrums. «Manchmal kümmern wir uns auch um Männer, so zum Beispiel jetzt gerade um einen alleinstehenden Vater, der taub, stumm und Analphabet ist. Momentan betreue ich auch eine schwangere Minderjährige, die jetzt endlich in einer Wohnung wohnen darf. Ich passe auf, dass ihre Rechte respektiert werden. Es gibt so viel zu tun.»

Um 19 Uhr, als sich die Türen des Zentrums Athena schliessen, begleitet Gabrielle Nastaran in die kleine Wohnung, die das Uno-Flüchtlingshilfswerk gemietet hat. Ihr ältester Sohn, ihre Zwillinge und ihre jüngste Tochter warten auf sie. Der Mutter schiessen sofort die Tränen in die Augen. Gabrielle muntert sie auf: «Du schaffst das, du brauchst niemanden. Du hast schon so viele Probleme alleine bewältigt.»