Über kaum ein anderes Land gibt es derart widersprüchliche Berichte wie über Eritrea. Die Uno und Amnesty International melden schwere Menschenrechtsverletzungen – Folter, willkürliche Inhaftierung, sklavenähnliche Zustände im umstrittenen «Nationaldienst». Die Regierung des Landes, aus dem monatlich Tausende Menschen fliehen, bestreitet die Vorwürfe, Unterstützer im Westen zumindest das Ausmass.
Hans-Ulrich Stauffer hat Eritrea mehrfach bereist, erstmals während des Befreiungskampfes gegen Äthiopien in den 1980er- Jahren. In «Eritrea – der zweite Blick» gibt der Jurist Eindrücke seiner Besuche wieder, fasst Gespräche mit BürgerInnen und RegierungsvertreterInnen zusammen und geht auf Geschichte, Gesellschaft sowie Wirtschaft Eritreas ein. Am eindrücklichsten sind Stauffers Schilderungen über den eritreischen Befreiungskampf. Etwa, wie die von den Supermächten im Stich gelassene Rebellenbewegung geheime Spitäler und Fabriken in die Hügel gegraben hat, wie sie den Nachschub aus dem Sudan organisierte, wie Kämpferinnen die Stellung der eritreischen Frau revolutionierten. Er lässt uns den Festtag beim Einmarsch der UnabhängigkeitskämpferInnen in Asmara 1991 wiedererleben. Plausibel begründet er, warum die ehemaligen Rebellen für den Wiederaufbau des Landes den «Nationaldienst» eingeführt haben.
Der Mitherausgeber des «Afrika-Bulletins» bestreitet weder, dass Langzeit-Präsident Isayas Afewerki ein autokratischer Herrscher ist, noch dass ein massives Demokratiedefizit herrscht – das Parlament hat seit 2001 nicht mehr getagt. Er räumt Rechtsunsicherheit und fehlende Pressefreiheit ein. Aber er macht es sich wohl zu einfach, wenn er den blutigen Grenzkrieg mit Äthiopien 1998-2000 und die wiederkehrenden äthiopischen Drohungen als Rechtfertigung heranzieht. Ein zweiter Argumentationsstrang Stauffers sind die unbestrittenen sozialen Fortschritte der letzten 25 Jahre. Was sei falsch daran, wenn die Regierung Ernährungssicherheit, Gesundheitsversorgung, Alphabetisierung oder Wiederaufforstung zeitweise höher gewichte als individuelle Rechte westlicher Prägung, fragt er. Kaum zur Sprache kommt die Kehrseite des faktisch unbefristeten (militärischen und zivilen) «Nationaldienstes»: Das Fehlen der jungen Männer und Frauen auf den heimischen Höfen, ihre Perspektivlosigkeit und der «Brain Drain» durch Massenflucht.
Zu Recht kritisiert Stauffer plakative «Nordkorea-Vergleiche ». Bei seiner Skepsis an den internationalen Menschenrechtsberichten widerspricht er sich allerdings selbst: Die Schweizer ParlamentarierInnen-Delegation, die 2016 Eritrea besucht hat, nimmt er gegen den Vorwurf der «Naivität» in Schutz. Dieselbe Naivität unterstellt er aber den geschulten Rechercheteams von Uno und Amnesty, weil diese «nur» mit Exil- EritreerInnen sprechen konnten, und macht einen schiefen Vergleich: «Das ist, als würde man die in Miami ansässigen kubanischen Oppositionellen über die Lage auf der Zuckerinsel befragen.» Aus Stauffers Buch können zweifellos interessante Erkenntnisse über Eritrea gewonnen werden. Es muss sich aber auch einen «zweiten Blick» gefallen lassen.