Die ersten Besucherinnen und Besucher sind schon um neun Uhr vor der unscheinbaren Halle im Industriegebiet von San José eingetroffen. Fein gekleidet, mit Blumensträussen in den Händen. Meist finden hier Hochzeiten, Geburtstage und Jubiläen statt. An diesem Tag aber begehen gleich mehrere katholische Latino-Gemeinden aus der San Francisco Bay Area eine Feier zu Ehren des Apostels Petrus. Eine Blaskapelle spielt auf, die Gläubigen ziehen in einer Prozession in die Halle ein.
Der katholische Geistliche Jon Pedigo hält die Predigt auf Spanisch: «Diese Woche haben wir Politiker gesehen, die behaupten, Jesus zu lieben, ihn aber eigentlich hassen», sagt er und zitiert aus der Bibel: «Wenn du mich liebst, dann kümmere dich um die Schwächsten der Schwachen», habe Jesus zu Petrus gesagt. Das bedeute aber, dass man keine Mauer baue, Immigranten nicht ihrer Rechte beraube und 23 Millionen Menschen um ihre Krankenversicherung bringe. «Und wenn doch, kann man sich nicht hinstellen und behaupten, man liebe Jesus.»
Die Predigt kommt gut an bei den etwa 200 Gläubigen, die nach Halt suchen in kritischen Zeiten. Die Sorge, dass ihre Familien durch die Politik von Präsident Donald Trump auseinandergerissen werden, treibt viele Menschen in San José um. Auch Rosa Valez. Vor zwölf Jahren kam sie mit vier Kindern aus dem mexikanischen Guadalajara in die USA – ohne Papiere. «Ich habe Angst, denn jeden Augenblick könnten die ICE-Mitarbeiter mich mitnehmen», sagt die Mittfünfzigerin. ICE steht für Immigration and Customs Enforcement, die US-Bundespolizei für Grenzsicherung, Zoll und Einwanderung.
Schutz in der Zukunftsstadt
Weil die lokalen Behörden San José zur Zufluchtsstadt (Sanctuary City) erklärt haben, hält sich dieses Risiko bislang in Grenzen. Denn wie auch in anderen Zufluchtsstädten unterstützt die örtliche Polizei den Grenzschutz nicht bei der Suche und Festnahme von Eingewanderten ohne gültige Aufenthaltspapiere. Der legale Status wird bei Kontrollen nicht abgefragt; die Kinder der Eingewanderten können problemlos die öffentlichen Schulen besuchen.
Doch die Regierung in Washington hat den Zufluchtsstädten den Kampf angesagt. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt unterzeichnete Trump eine Anordnung, die den Städten mit der Streichung von Geldern droht, sollten sie ihre Unterstützung irregulär Eingewanderter fortsetzen. Justizminister Jeff Sessions lässt derzeit prüfen, wie man die Kommunen zum Aufgeben zwingen kann. Obwohl einige Städte, darunter San Francisco, Oakland und San José, erfolgreich gegen die Anordnung geklagt haben, gibt Trump nicht auf – mit dramatischen Folgen für Millionen Menschen, die in Ungewissheit leben müssen.
«Viele Eltern schicken ihre Kinder nicht mehr in den Unterricht, aus Angst, auf der Strasse aufgegriffen zu werden.»
Vanessa Sandez arbeitet als Lehrerin in einer Schule für gehörlose Kinder. «Viele Eltern schicken ihre Kinder nicht mehr in den Unterricht, aus Angst, auf der Strasse aufgegriffen zu werden», berichtet sie. «Ihr Sozialleben beschränkt sich auf die eigenen vier Wände.» Vom Rückzug ins Private als Schutz vor den Behörden ist in diesen Tagen viel die Rede. So zeigten Eingewanderte ohne Papiere Straftaten in ihrer Nachbarschaft nicht mehr an und gingen nur noch in äussersten Notfällen zum Arzt. Aus Angst, in die Mühlen der amerikanischen Abschiebebürokratie zu gelangen.
Ben Daniel sieht die Gefahr und versteht, warum sich viele MigrantInnen nun passiver verhalten. Er ist Pastor an der Presbytarian Church von Montclair, einem Stadtteil von Oakland. Er verweist auf ein staatliches Programm für irregulär Eingewanderte, die bereits als Kinder mit ihren Eltern ins Land kamen (Deferred Action for Childhood Arrivals, DACA). Unter Trumps Vorgänger Barack Obama verabschiedet, feierten viele Mitglieder der Latino-Community dieses Programm als wichtigen Schritt zu ihrer Legalisierung. Zahlreiche junge Erwachsene folgten dem Aufruf, sich bei den Behörden registrieren zu lassen und dafür ein Aufenthalts- und Arbeitsrecht zu erhalten.
Misstrauen und Widerstand
«Es ist nur zu verständlich, dass die Menschen der Regierung nicht mehr glauben. Sie wurden hinters Licht geführt.»
Unter Trump freilich zeigen sich die Schattenseiten dieses Prozesses, sagt Pastor Daniel, da die Behörden nun wüssten, wo diese Menschen leben und arbeiten. Da die Regierung in Washington erklärt habe, DACA nicht anzuerkennen, drohe vielen nun die Abschiebung. «Es ist nur zu verständlich, dass sie der Regierung nicht mehr glauben. Sie wurden hinters Licht geführt.»
Die Kirche in Montclair ist Teil eines Netzwerkes von mehr als dreissig Glaubensgemeinschaften in der East Bay, darunter christliche, jüdische, muslimische und buddhistische, das bereits seit den frühen 1980er Jahren Flüchtlinge aus Mittelamerika unterstützt. Tausende Menschen aus Honduras, El Salvador und Guatemala flohen damals vor den Bürgerkriegen in ihren Ländern – abgerissen ist die Flucht in die USA seither nicht.
Die Bereitschaft, auf allen Ebenen zu helfen, ist mit der Wahl Trumps deutlich gestiegen. In Gotteshäusern und auf den Strassen wächst der Widerstand gegen eine Politik, die Mexikaner als «Vergewaltiger», «Drogendealer» und «Kriminelle» abstempelt und Flüchtlingen aus Krisen- und Kriegsgebieten aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres Glaubens die Einreise in die USA verwehrt.
Wie sich das langfristig auf die Immigration auswirken wird, weiss keiner genau zu sagen. Auch nicht mit Blick auf die Landwirtschaft, in der viele der irregulär ins Land gekommenen Menschen arbeiten. In Ventura County, nördlich von Los Angeles, gab es bislang nie Probleme, die Jobs auf den Feldern zu besetzen. Schon im Februar kamen früher viele Mexikanerinnen und Mexikaner über die Grenze, um hier als Tagelöhner eine Handvoll Dollar zu verdienen. Doch in diesem Jahr war alles anders. Es standen vierzig Prozent weniger Arbeitskräfte als in den Vorjahren zur Verfügung, was dazu führte, dass FarmerInnen Anzeigen in Tageszeitungen schalteten und aktiv um PflückerInnen warben, um das Einbringen der Ernte nicht zu gefährden.
Dass sich kaum AmerikanerInnen auf die Anzeigen meldeten, war eingeplant. Denn nur dann, wenn es keine einheimischen Kräfte für die Feldarbeit gibt, dürfen die LandwirtInnen GastarbeiterInnen mit sogenannten H2-A-Visa aus dem Nachbarland anfordern. Das ist teurer für die Arbeitgebenden, da sie einen gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn bezahlen müssen, der deutlich höher ausfällt als die sonst übliche Entlohnung. Auch für Unterbringung und Verpflegung müssen die FarmerInnen aufkommen.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sie bislang auf ArbeiterInnen ohne Papiere setzten, die bar bezahlt werden konnten. Doch damit scheint es nun vorbei zu sein. So brüstet sich die Trump-Regierung damit, die Zahl der irregulären Grenzübertritte seit Jahresbeginn um sechzig Prozent reduziert zu haben. Was für den Präsidenten zählt, sind Zahlen und Statistiken – nicht die Gründe für die Flucht und menschliche Schicksale. Die Mauer, zumindest die in den Köpfen, ist bereits errichtet.