Dass wir Ungläubige nicht auf Marktplätzen verbrennen und Lesben nicht ins Zuchthaus stecken, mag uns heute so selbstverständlich erscheinen wie die Luft zum Atmen. Doch wir leiden unter historischer Kurzsichtigkeit: Unsere Rechte und Freiheiten geniessen wir, weil Menschen über Jahrhunderte hinweg dafür gekämpft haben, viele unter Einsatz ihres Lebens. Menschenrechte fallen nicht vom Himmel, sondern müssen hier auf Erden erstritten und verteidigt werden.
Dieser Kampf ist neuerdings wieder gefährlicher geworden. Mindestens 281 Menschen wurden im vergangenen Jahr getötet, weil sie für eine humanere Welt eingetreten sind. Mehr als 3500 waren es in den vergangenen 20 Jahren. Die Opfer waren Journalistinnen und Whistleblower, Bäuerinnen und Ärzte, Umweltaktivistinnen, Gewerkschafter oder einfach engagierte Bürgerinnen und Bürger. Die Mehrheit der Täterinnen und Täter wurde nie zur Verantwortung gezogen. Wer Menschenrechte schützt, braucht immer häufiger selbst Schutz.
«Das Recht, sich für Menschenrechte einzusetzen, steht weltweit unter Beschuss», sagt Salil Shetty, Generalsekretär von Amnesty International. In Russland, China oder Ägypten gehen die Regierungen gegen die Zivilgesellschaft vor, als sei der Einsatz für die Menschenrechte ein Kapitalverbrechen. In 94 Staaten wurden im vergangenen Jahr Aktivistinnen und Aktivisten bedroht oder angegriffen, in 68 Ländern wegen ihrer friedlichen Arbeit festgenommen.
Globale Gegenoffensive
Im Jahr 1989 fiel die Berliner Mauer. Viele glaubten damals an den Anbruch eines goldenen Zeitalters. Von diesem Optimismus ist nicht mehr viel übrig geblieben.
Es ist noch nicht lange her, da schienen die Menschenrechte weltweit zu triumphieren. Im Jahr 1989 fiel die Berliner Mauer und friedliche Proteste zwangen das sowjetische Weltreich in die Knie. Viele glaubten damals an den Anbruch eines goldenen Zeitalters: Friede, Freiheit und Demokratie für alle. Von diesem Optimismus ist nicht mehr viel übrig geblieben. Putin und Erdogan entpuppten sich als lupenreine Autokraten. Der demokratische Aufbruch in der arabischen Welt endete in Blut und Tränen. Und selbst in den USA und Indien, den beiden grössten Demokratien der Welt, scheint die offene Gesellschaft plötzlich wieder in Gefahr.
Wir erleben einen globalen Rollback: Weltweit haben Regierungen in den vergangenen Jahren hart erkämpfte demokratische Freiräume wieder eingeschränkt und Gesetze erlassen, die den Kampf für Menschenrechte schwieriger und gefährlicher machen. Die Mächtigen ersticken friedliche Proteste mit Waffengewalt, verbieten Zeitungen und Gewerkschaften, lassen Menschenrechtsverteidigerinnen entführen, foltern oder hinrichten und diffamieren friedliche Aktivisten als «Agenten», «Vaterlandsverräter» oder «Terroristen».
Insbesondere das Recht auf Versammlungsfreiheit ist derzeit weltweit bedroht. Sechs Jahre ist es her, dass in den arabischen Staaten Millionen Menschen für Brot, Freiheit und Gerechtigkeit auf die Strassen zogen. In Tunesien, Ägypten und Libyen stürzte das Volk im Eiltempo ihre Despoten. Der Arabische Frühling erschreckte Diktatoren weltweit und führte zu einer globalen Gegenoffensive: In vielen autokratisch regierten Ländern wurde das Recht, friedliche Proteste abzuhalten, seither massiv eingeschränkt.
Aber selbst in demokratischen Staaten ist das Demonstrationsrecht in Gefahr: In Südkorea ist die Versammlungsfreiheit ein verbrieftes Grundrecht, trotzdem werden dort friedliche Proteste routinemässig mit exzessiver Gewalt aufgelöst. Mehr als 80 Prozent aller Demonstrationsanträge lehnen die Behörden bereits im Vorhinein ab. Und auch in den USA setzen Sicherheitskräfte immer wieder Reizchemikalien und Wasserwerfer gegen friedlich Protestierende ein und nehmen Hunderte von ihnen widerrechtlich fest.
Auch gegen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie Amnesty, Greenpeace oder Ärzte ohne Grenzen gehen Regierungen immer schärfer vor. Russland machte 2012 den Anfang: NGOs müssen sich dort seither als «Agenten» registrieren lassen, wenn sie Spenden aus dem Ausland annehmen oder sich «politisch betätigen». Inzwischen können die russischen Behörden NGOs auch als «unerwünscht» einstufen. Wer eine russische Staatsangehörigkeit besitzt und sich trotzdem für sie engagiert, kann für bis zu sechs Jahren im Gefängnis landen. Das Beispiel hat weltweit Schule gemacht: Mehr als 90 Staaten haben inzwischen Gesetze vorbereitet oder bereits eingeführt, um regierungskritischen NGOs die Luft abzudrehen – darunter nicht nur autoritär regierte Länder wie Weissrussland, Bahrain oder Ägypten, sondern auch Demokratien wie Israel, Indien und Ungarn.
Ausweitung der Kampfzone
Der Kampf gegen Dissidenten und Menschenrechtlerinnen wird längst auch digital geführt – zum Beispiel auf Twitter und Facebook.
Bei der Unterdrückung kritischer Stimmen sind Regierungen weltweit technisch auf der Höhe der Zeit. Der Kampf gegen Dissidenten und Menschenrechtlerinnen wird längst auch digital geführt – zum Beispiel auf Twitter und Facebook. Wer sich für Menschenrechte einsetzt, kann dort zur Zielscheibe werden, wie beispielsweise die investigative Journalistin Carmen Aristegui aus Mexiko. Nachdem sie in ihrer Heimat mehrere Korruptionsskandale aufgedeckt hatte, verbreitete sich 2015 im Internet die Nachricht, Aristegui habe selbst Schmiergelder angenommen. Unzählige anonyme User verbreiteten das Gerücht in den sozialen Netzwerken. «Trolle» werden diese digitalen Schlägertrupps genannt – in Ländern wie Mexiko, Russland oder den Philippinen sind sie besonders aktiv. Nicht selten werden sie von Regierungen oder Wirtschaftskonzernen bezahlt, um unliebsame Personen zu diskreditieren. «Wenn sie dich nicht töten, ruinieren sie dein Leben», sagt der mexikanische Internetaktivist Alberto Escorcia. «Die Trolle schüren ein permanentes Klima der Angst. Viele Menschen trauen sich nicht mehr, ihren Mund aufzumachen.» Escorcia klärt in seinem Blog über digitale Hetzkampagnen auf – und erhält deswegen selbst regelmässig anonyme Morddrohungen.
Die neuen Technologien haben in den vergangenen Jahren auch gänzlich neue Formen der Überwachung ermöglicht. Der kleine Golfstaat Bahrain setzt beispielsweise ausgefeilte Spionagesoftware ein, um Dissidenten und Menschenrechtsverteidigerinnen im Inland wie im Ausland auszuspähen. Diese «Trojaner» ermöglichen es dem bahrainischen Geheim dienst, sämtliche Chats, Mails und Browseraktivitäten unliebsamer Personen abzufangen. Die Software hat Bahrain aus befreundeten Demokratien wie der Bundesrepublik Deutschland importiert.
Überwachung ist ein globales Phänomen und keineswegs auf ferne Diktaturen beschränkt. So kam inzwischen heraus, dass auch die britische Polizei jahrelang kritische Journalistinnen und Journalisten ausgespäht hat. Dabei notierten die Behörden nicht nur akribisch, mit wem die Medienschaffenden sprachen und was sie recherchierten, sondern schnüffelten auch in ihren Krankenakten und vermerkten sogar die Farbe ihrer Schuhe.
Wer für Menschenrechte, Demokratie und Transparenz kämpft, gerät nicht nur ins Visier von Regierungen und Geheimdiensten, sondern auch von bewaffneten Gruppen wie dem «Islamischen Staat», mexikanischen Drogenkartellen – oder milliardenschweren Konzernen. Die Nigerianerin Esther Kiobel hat in den Niederlanden vor wenigen Wochen den britisch-niederländischen Mineralölkonzern Shell verklagt. Das nigerianische Militär erhängte 1993 ihren Mann und acht weitere Menschenrechtsaktivisten. Die Männer hatten zuvor friedlich dagegen protestiert, dass Shell im Nigerdelta Bodenschätze ausbeutet und damit ihre Lebensgrundlage zerstört. Neue Amnesty-Recherchen belegen: Shell ermutigte die nigerianische Regierung, die Proteste aus der Welt zu schaffen.
Immer wieder sind Wirtschaftsunternehmen in Attacken auf Menschenrechtsverteidiger und Aktivistinnen verstrickt. So wohl auch am 2. März 2016 in Honduras: Berta Cáceres lag im Schlafzimmer, als kurz vor Mitternacht bewaffnete Männer ihr kleines, giftgrün gestrichenes Giebelhaus im Städtchen La Esperanza stürmten. Mit vier Schüssen richteten sie die 44-Jährige hin. Es war ein Mord mit Ansage: Die Menschenrechtsverteidigerin hatte gegen den Bau eines Staudamms auf indigenem Land gekämpft – und sich damit die Baufirma Desa zum Feind gemacht. «Sie hatte Tausende Drohungen erhalten», sagt ihr Bruder Gustavo Cáceres. «Ihr Tod hätte verhindert werden können.»
Die honduranischen Behörden wären verpflichtet gewesen, Berta Cáceres zu schützen. Im Jahr 1998 einigten sich die Vereinten Nationen auf die «Deklaration für die Rechte von Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidigern». Die internationale Gemeinschaft unterstrich darin, dass sich Menschenrechte nur durchsetzen lassen, wenn eine lebendige Zivilgesellschaft dafür kämpft. Und die Staaten gelobten, die Sicherheit von Journalisten, Gewerkschafterinnen und Menschenrechtsaktivisten zu garantieren. Die Erklärung war ein historischer Erfolg im weltweiten Kampf für die Menschenrechte. Nun müssen wir dafür kämpfen, dass sie eingehalten wird.