Ni Yulan hätte ein völlig anderes Leben führen können. Sie hätte ihre Anwaltskanzlei für gutes Geld verkaufen und sich zur Ruhe setzen können. Sie würde nun wie viele ihrer ehemaligen KommilitonInnen ein deutsches Oberklasseauto fahren und eine schicke Wohnung am Pekinger Stadtrand besitzen. Und ein- oder zweimal im Jahr würde sie sich mit ihrer Familie eine Auslandsreise gönnen.
Chinesische Beamte brachen ihr das Bein und entzogen ihr die Anwaltslizenz. Trotzdem kämpft Ni Yulan weiter.
Stattdessen sitzt die heute 57-Jährige im Rollstuhl, muss alle paar Monate ihr Hab und Gut zusammenpacken und sich erneut auf Wohnungssuche begeben. Allein in diesem Jahr wurden sie und ihr gesundheitlich angeschlagener Mann Dong Jiqin schon vier Mal aus ihren Unterkünften vertrieben. Im April übernachteten sie 16 Tage lang im Warteraum einer Pekinger Polizeistation. Danach schliefen sie für einige Wochen in einem Park. Nach langem Suchen war ein kleines Gästehaus bereit, sie aufzunehmen. Im August bezogen sie schliesslich eine kleine Wohnung im Pekinger Vorort Tongzhou.
Doch bereits einen Monat später teilte ihnen der Vermieter mit, dass sie auch dort nicht bleiben könnten. Die Behörden setzen ihn offenbar unter Druck. Nun hämmern jeden Tag Unbekannte bis zu einer Stunde gegen ihre Wohnungstür. Sie wollen Ni und ihren Mann einschüchtern. Das Ehepaar rechnet damit, schon bald wieder obdachlos zu sein.
Stimme gegen Unrecht
Mehr als eine halbe Million AnwältInnen gibt es in China. Doch nur wenige wagen es, politisch sensible Fälle anzunehmen. Denn die Behörden gehen rabiat gegen unliebsame Juristinnen und Juristen vor. Ni Yulan liess sich davon nicht beirren. 18 Jahre arbeitete sie als Rechtsanwältin und nahm sich Fällen an, die in China als brisant gelten. Darunter zählt das Thema Zwangsräumung. Chinas Wirtschaftsaufschwung, vor allem aber der ab Ende der neunziger Jahre einsetzende Bauboom brachten auch viele VerliererInnen hervor. Immobilienhaie, Bauunternehmerinnen und korrupte Beamte sahen im Abriss alter Häuser und den Bau neuer Hochhäuser ein lukratives Geschäft. Dafür mussten andere, oft alteingesessene BewohnerInnen weichen – zum Teil mit ruppigen Methoden. Ein Unrecht, wie Ni Yulan und viele AktivistInnen fanden. Ni versuchte juristisch dagegen vorzugehen. Das wurde ihr zum Verhängnis.
Unermüdlicher Protest
Als sie im Frühjahr 2002 den Abriss des Hauses eines Mandanten filmte, nahmen lokale Sicherheitskräfte sie das erste Mal fest. In Gewahrsam traten die Beamten so brutal auf ihre Knie ein, dass sie seither im Rollstuhl sitzt. Die Täter wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Sie und ihr Ehemann landeten hingegen im Gefängnis. Ni wurde in die Pekinger Frauenhaftanstalt Tiantanghe gebracht. Sie verlor ausserdem ihre Anwaltslizenz. Das Ehepaar liess sich jedoch nicht einschüchtern. Als Ni wieder in Freiheit war, brachte sie sich erneut ein – nun als Aktivistin.
Als im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 die Bagger in Peking zu Tausenden anrückten und Zwangsräumungen zur Tagesordnung gehörten, wurden Ni und ihr Mann selbst Opfer der Enteignung. Die Behörden liessen auch ihr Haus abreissen – ohne Entschädigung. Und weil sie dagegen Protest einlegte, verurteilte ein Volksgericht sie zu einer zweijährigen Haftstrafe.
Dann kam 2011 der Arabische Frühling: Ni Yulan war gerade einmal seit einem Jahr wieder aus dem Gefängnis draussen; in den arabischen Ländern demonstrierten die Menschen auf den Strassen. Die chinesische Führung befürchtete, die Proteste könnten auch auf China überspringen. Die Behörden nahmen in dieser Zeit alle möglichen DissidentInnen fest.
Am 7. April 2011 traten PolizistInnen Nis Wohnungstür ein und nahmen sie mit. Das Xicheng-Volksgericht verurteilte sie ein Jahr darauf wegen «Unruhestiftung», «Betrug» und «Zerstörung fremden Eigentums». Dieses Mal zu zwei Jahren und acht Monaten. Ihr Ehemann Dong erhielt eine zweijährige Haftstrafe. Ni sei zudem ohne Anwaltslizenz juristisch tätig gewesen. Immerhin dieser Vorwurf wurde später wieder zurückgezogen, ihre Haft um zwei Monate verkürzt.
Ständige Vertreibungen
Ihre MitstreiterInnen berichten, dass sich Ni viele Jahre kämpferisch und unerschütterlich zeigte. Sie sei diejenige, die dazu aufrief, die Hoffnung nicht zu verlieren. Doch die vielen Jahre in Haft und die ständigen Vertreibungen haben Ni mürbe gemacht. «Wir sind einfach nur noch Getriebene», sagte sie vor zwei Jahren auf einem Treffen mit anderen Betroffenen. Das Treffen fand in einem Hutong statt, den traditionellen einstöckigen Pekinger Häusern mit Innenhöfen, von denen es in der chinesischen Hauptstadt nur noch sehr wenige gibt. «Dabei wollten wir doch die Missstände anprangern und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.»
Für ihr Engagement verlieh ihr das US-Aussenministerium im März 2016 den «Internationalen Preis für Frauen mit Mut». An der feierlichen Zeremonie in Washington konnte sie nicht teilnehmen, die chinesischen Behörden stellten ihr keinen Reisepass aus. Stattdessen bezeichnete die chinesische Führung die Verleihung als «Schmutzkampagne gegen China» und rächte sich auf ihre Weise: Noch in der Nacht der Preisvergabe trat ein Räumtrupp die Tür von Nis Wohnung ein und warf sie und ihren Mann auf die Strasse. Mit Unterstützung von Freunden fanden sie eine neue Bleibe. Dort wurden sie jedoch von Schlägern aufgesucht, die ihren Mann verprügelten.
Dabei waren die Hoffnungen gross, als die Kommunistische Partei Xi Jinping 2012 zu ihrem neuen Chef kürte und er damit an die Spitze der Staatsführung aufrückte. Er hatte mehrfach den Rechtsstaat für China versprochen, sogar von Demokratie geredet und seine GenossInnen zu mehr Rechtsstaatsbewusstsein aufgerufen. Doch dazu ist es nie gekommen. Im Juli 2015 nahmen Sicherheitskräfte auf einen Schlag mehr als 300 RechtsanwältInnen fest, von denen sich einige bis heute in Haft befinden. So wie die meisten von ihnen kann auch Ni seitdem nur noch selten Besuch empfangen – schon gar nicht von DiplomatInnen oder JournalistInnen.
Menschenrechtsorganisationen weltweit beobachten aufmerksam den weiteren Verlauf. Und auch mehrere westliche Botschaften, darunter die deutsche und österreichische, versuchen Ni und ihre Familie zu unterstützen, bislang ohne Erfolg. Die chinesischen Behörden zeigen sich unerbittlich. Noch.
Felix Lee ist China-Korrespondent in Peking.