Esther Kiobel vor dem Hauptsitz des Öl-Konzerns in Den Haag. © Amnesty International
Esther Kiobel vor dem Hauptsitz des Öl-Konzerns in Den Haag. © Amnesty International

MAGAZIN AMNESTY Jetzt erst Recht Die Witwe und der Weltkonzern

Von Andreas Koob. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Dezember 2017.
Die Nigerianerin Esther Kiobel ist sich sicher: Der Ölkonzern Shell ist in die Ermordung ihres Mannes verstrickt. Nun zieht die Witwe gegen den Multi vor Gericht.

Vom Tod ihres Mannes erfuhr Esther Kiobel am Telefon. Sie solle seine Sachen abholen, sagte der Anrufer damals. Neun Männer wurden am 10. November 1995 an einem geheimen Ort in Nigeria gehängt und in anonymen Gräbern verscharrt. Einer von ihnen war Barinem Kiobel.

Amnesty-Recherchen belegen die fragwürdige Rolle, die Shell in Nigeria spielte.

22 Jahre später steht seine Frau Esther vor dem gläsernen Hauptsitz des Shell-Konzerns in Den Haag. In der Hand hält sie ein Foto ihres Mannes, ihre tiefbraunen Augen blicken nüchtern in die Pressekameras. Esther Kiobel hat in den Niederlanden Klage gegen Shell eingereicht. Die 53-Jährige ist sich sicher, dass der niederländische Konzern in die Ermordung ihres Mannes verstrickt war. CNN, der Guardian und viele andere Medien berichteten über den Auftakt dieses aussergewöhnlichen Rechtsfalls.

Die Hinrichtung von Barinem Kiobel und der acht anderen Männer war der Höhepunkt einer Gewaltkampagne, mit der Nigerias Militär in den 1990er Jahren den friedlichen Protest gegen Shells Geschäftspraktiken im Nigerdelta unterdrücken wollte. Amnesty-Recherchen belegen die fragwürdige Rolle, die Shell in Nigeria spielte.

Verseuchte Böden, zerstörte Leben

Seit 1990 demonstrierte die Volksgruppe der Ogoni friedlich gegen die Zerstörung ihrer Heimat. Shell hatte im Nigerdelta Pipelines verlegt. Unzählige Lecks verseuchten Ackerböden und Flüsse und zerstörten den ansässigen Fischern und Bäuerinnen ihre Lebensgrundlage. Als Reaktion formierte sich die «Bewegung für das Überleben der Ogoni» (MOSOP). Obwohl sie seit ihrer Gründung Repressionen ausgesetzt war, bekam sie enormen Zulauf. Im Januar 1993 demonstrierten 300 000 Menschen gegen Shell – mehr als die Hälfte der gesamten Ogoni-Bevölkerung.

Hinter den Kulissen machte der Konzern bei der nigerianischen Regierung Druck, die Proteste aus der Welt zu schaffen.

Doch Shell dachte nicht daran, sich aus dem Nigerdelta zurückzuziehen. Etwa ein Fünftel seiner weltweiten Öl- und Gasreserven lagerten in Nigeria. Hinter den Kulissen machte der Konzern bei der nigerianischen Regierung Druck, die Proteste aus der Welt zu schaffen. Dass sich die nigerianische Regierung bereits in der Vergangenheit schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht hatte, war den Unternehmensverantwortlichen bekannt, sagt Amnesty-Ermittler Mark Dummett. «Wir wissen aus internen Shell-Dokumenten sehr genau, dass sie sich im Klaren darüber waren, was es bedeutet, die nigerianische Armee zu bitten, den Bau ihrer Pipelines abzusichern.»

Die nigerianische Regierung schickte das Militär, um den Ausbau der Shell-Pipelines sicherzustellen. Im April 1993 wurden elf unbewaffnete Menschen durch Schüsse verletzt. Im Mai wurde eine erste Person getötet, im Oktober erschoss eine Armeeeinheit erneut zwei Protestierende. Nach jenem Einsatz zahlte Shell der ausführenden Militäreinheit einen «Ehrensold» von umgerechnet 1364 US-Dollar als «Zeichen der Dankbarkeit und Motivation für eine nachhaltige positive Einstellung gegenüber SPDC (Shell Petroleum Development Company of Nigeria) bei zukünftigen Missionen» – wie es in einem internen Vermerk des Unternehmens aus jenen Tagen nachzulesen ist. «Sie kauften sich die Sonderheiten, um sicherzustellen, dass diese weiterhin im Sinne von Shell handeln», sagt Esther Kiobels Anwältin Channa Samkalden. «Und sie sendeten nicht das geringste Signal, dass das Töten von Menschen nicht zur Order gehöre.»

Das Militär rückt an

Doch die Proteste gegen Shell liessen nicht nach. Die Militärregierung schuf deshalb 1994 für den Bundesstaat Rivers State, in dem das Ogoniland liegt, eine Taskforce aus Armee-, Marine-, Polizei- und Sicherheitsbediensteten. Bei einem der ersten Einsätze eröffnete die Taskforce das Feuer auf Menschen, die vor einer Shell-Niederlassung friedlich protestierten. Im Juni 1994 informierte der niederländische Botschafter den Shell-Konzern, dass bereits 800 Ogoni getötet worden seien.

Und nun gingen die Behörden auch juristisch gegen die Protestbewegung vor. Im Mai 1994 nahmen sie den MOSOP-Anführer Ken Saro-Wiwa und 14 weitere Männer fest. Zuvor waren drei alteingesessene Ogoni-Anführer von einem Mob gelyncht worden. Für diese Gewalttat machte man die Festgenommenen verantwortlich – ohne einen Beweis vorzulegen. «Geständnisse» wurden unter grausamer Gewalt erpresst: Ein Jugendaktivist wurde beispielsweise nackt an eine Säule gefesselt und ausgepeitscht, anschliessend zwang man ihn, seine ausgeschlagenen Zähne herunterzuschlucken.

In einem Schauprozess wurden neun der inhaftierten Männer zum Tode verurteilt, manche für die Anstiftung zur Tat, wie Saro-Wiwa und Kiobel, andere für die Tat selbst. Schlüsselzeugen der Staatsanwaltschaft sagten später aus, dass  sie bestochen wurden: Wenn sie gegen die Angeklagten aussagten, könnten sie erwarten, bei Shell einen Job zu bekommen.

Auch Esther Kiobel fürchtete nach der Hinrichtung um ihr Leben. Sie floh erst nach Benin und konnte 1998 mit der Unterstützung von Amnesty in die USA einreisen, wo sie heute als Krankenschwester arbeitet.

Ihr Mann Barinem Kiobel hatte der MOSOP gar nicht angehört. Der Tourismusexperte, der in Grossbritannien studiert und promoviert hatte, arbeitete vor seiner Festnahme als leitender Beamter des Bundesstaats Rivers State. In dieser Funktion hatte er das Vorgehen der Regierung in Ogoniland kritisiert. «Es lässt sich nur mutmassen, aber das könnte der Grund sein, warum die Regierung auch ihn inhaftierte», sagt Anwältin Channa Samkalden.

Shell muss sich verantworten

Shell weist alle Anschuldigungen von sich. Der Konzern «arbeitete nicht mit den Militärbehörden zusammen, um Unruhen zu unterdrücken, und unterstützte oder befürwortete in keiner Weise Gewalttaten in Nigeria», verkündete Shell vor Veröffentlichung der neuen Amnesty-Recherchen. Doch als im Januar 2017 ein Gericht in den USA anordnete, dass der Konzern interne Dokumente zu den Ogoni-Protesten herausgeben müsse, legten die Anwälte Shells sofort Widerspruch ein.

Seit dem Jahr 2002 versucht Esther Kiobel, Shell juristisch zur Verantwortung zu ziehen. Zunächst klagte sie in den USA, doch 2013 urteilte der Supreme Court, dass USGerichte für den Fall nicht zuständig seien. Nun hat sie den Konzern gemeinsam mit drei weiteren Witwen in dessen Heimatland, den Niederlanden, verklagt. «Egal, ob wir diesen Fall gewinnen oder nicht: Shell muss auf unsere Klage vor Gericht reagieren», sagt Anwältin Channa Samkalden. «Auf dem Weg zur Gerechtigkeit sind wir damit bereits einen Schritt weiter.» Esther Kiobel wird sich in der Angelegenheit nicht verstecken, der Öl-Riese Shell wird es wohl weiterhin versuchen.

Andreas Koob ist freischaffender Journalist und lebt in Berlin.