Zwei «Madres de Plaza de Mayo» in Argentinien freuen sich über die Verurteilung von Marine- und Geheimdienstoffizier Alfredo Astiz und weiteren mitangeklagten Militärs. Astiz erhielt wegen Verschleppung und Folter von Oppositionellen während der Videla-Diktatur eine lebenslange Freiheitsstrafe. © Keystone / Marcos Brindicci
Zwei «Madres de Plaza de Mayo» in Argentinien freuen sich über die Verurteilung von Marine- und Geheimdienstoffizier Alfredo Astiz und weiteren mitangeklagten Militärs. Astiz erhielt wegen Verschleppung und Folter von Oppositionellen während der Videla-Diktatur eine lebenslange Freiheitsstrafe. © Keystone / Marcos Brindicci

MAGAZIN AMNESTY Jetzt erst Recht Gerechtigkeit verjährt nicht

Von Markus Bickel. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Dezember 2017.
In vielen Fällen lassen sich Menschenrechte nur vor Gericht durchsetzen. Doch der juristische Kampf gegen Folterer, Kriegsverbrecher und multinationale Konzerne braucht einen langen Atem.

Veralten wird der Slogan wohl nie. ≪¡No a la impunidad! – Nein zur Straflosigkeit!≫, fordern die Mütter der Plaza de Mayo in Buenos Aires noch heute, damit die Verantwortlichen für das Verschwindenlassen ihrer Kinder endlich zur Rechenschaft gezogen werden. Und das, obwohl inzwischen vierzig Jahre vergangen sind, seitdem die Madres im April 1977 das erste Mal mit ihren weissen Kopftüchern im Zentrum der argentinischen Hauptstadt gegen den schmutzigen Krieg der Militarjunta protestierten. Zehntausende fielen diesem zwischen 1976 und 1983 zum Opfer.

Der lange Kampf der argentinischen MÜtter hat viel bewegt. Doch er hatte seinen Preis.

Der lange Kampf der argentinischen Mütter hat viel bewegt. Dass 2010 die Uno-Konvention gegen Verschwindenlassen in Kraft trat, ist nicht zuletzt ihrem Einsatz zu verdanken. Bereits fünf Jahre zuvor hatten die obersten Richter in Buenos Aires das sogenannte Schlussstrich-Gesetz für verfassungswidrig erklärt, weil es Generäle und Anführer von Todesschwadronen auch zwei Jahrzehnte nach Ende der Diktatur vor strafrechtlicher Verfolgung schützte. Hunderte Prozesse sind seitdem ins Rollen gekommen; etliche Begnadigungen, die aufgrund des Amnestiegesetzes und diverser Gnadenerlasse erfolgt waren, wurden aufgehoben. Doch der lange Marsch durch die Instanzen hatte seinen Preis. Die erste Anführerin der Madres, Azucena Villaflor, verschwand noch im ersten Protestjahr. Am 10. Dezember 1977, dem Tag der Menschenrechte, führten Soldaten sie aus ihrer Wohnung ab, steckten sie in ein Konzentrationslager und entledigten sich ihrer später vermutlich auf einem der berüchtigten Todesflüge über dem Meer,bei denen Dissidenten und Oppositionelle aus Militärmaschinen gestossen wurden. Erst 2005 konnte ihre Leiche identifiziert werden. Bloss keine Spuren hinterlassen, lautete die Devise der Machthaber um den ersten Junta-Chef General Jorge Rafael Videla.

Hartnäckigkeit lohnt sich

Was für Lateinamerika gilt, gilt auch auf anderen Kontinenten: RepräsentantInnen repressiver Regime, lokaler Milizen und für Menschenrechtsverletzungen verantwortlicher Konzerne unternehmen alles, um nicht vor Gericht zu landen. Zeuginnen und Anwälte werden umgebracht, Angehörige verleumdet und kritische Medienschaffende diskreditiert, um ihre Glaubwürdigkeit während des Verfahrens zu untergraben. Denn kaum etwas schadet der Reputation von Regierungen und dem Profitstreben multinationaler Unternehmen mehr als eine Verurteilung – sei es wegen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sei es wegen mangelnder Sorgfaltspflicht in Fabriken oder globalen Produktionsketten.

Hartnäckigkeit hilft,  Schreibtischtätern und anderen Schurken schon lange vor einem Prozess schlaflose Nächte zu bereiten.

Doch die Spielräume skrupelloser Strippenzieher werden enger, rechtlich wie politisch. Seitdem der chilenische Diktator Augusto Pinochet 1998 in London verhaftet wurde, ist klar, dass die Kooperation von AnwältInnen und Angehörigen der Opfer mit internationalen Polizeibehörden juristisch nicht folgenlos bleiben muss. Doch weil die Mühlen der Justiz langsam mahlen, braucht es einen langen Atem. Hartnäckigkeit hilft darüber hinaus,  SchreibtischtäterInnen und anderen Schurken schon lange vor einem Prozess schlaflose Nächte zu bereiten.

Auch deshalb ist das erste von der internationalen Gemeinschaft geschaffene Sondergericht eine Erfolgsgeschichte. 1993 hatte der Uno-Sicherheitsrat das Haager Kriegsverbrechertribunal zur Verfolgung der in den jugoslawischen Sezessionskriegen begangenen Straftaten ins Leben gerufen. Von den 161 in Den Haag Angeklagten wurde bis heute mehr als die Hälfte verurteilt – als letzter prominenter Täter im November Ratko Mladic, die rechte Hand des 2006 in Haft verstorbenen serbischen Ex-Staatschefs Slobodan Milosevic. Zu Last gelegt wird Mladic unter anderem der Mord an mehr als 8000 muslimischen Männern und Jungen in Srebrenica 1995, das schlimmste Massaker in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der erste Chefankläger des Haager Tribunals, Richard Goldstone, hatte die Klage gegen den bosnisch-serbischen General nur Wochen nach dem Völkermord eingereicht. Später machte seine Nachfolgerin Carla Del Ponte im Prozess gegen Milosevic Schlagzeilen – und bei ihrer Rücktrittserklärung aus der Uno-Ermittlerkommission für Syrien. Sie könne nicht weiter «nur als Alibi-Ermittlerin» einem Gremium angehören, das «einfach nichts tut», sagte die Schweizer Juristin im September.  

Bereits kurz nach Beginn des Aufstands in Syrien 2011 hatten Del Ponte und ihre MitstreiterInnen begonnen, Zeuginnen und Zeugen zu vernehmen, um Beweise für Kriegsverbrechen zu sammeln. Andere Organisationen trugen von Oppositionellen beschlagnahmte Polizei- und Geheimdienstpapiere zusammen, die eine Befehlskette bis hoch zu Assad zweifelsfrei belegen. Aber nicht nur für Massaker des Regimes, sondern auch für solche der Terrorgruppe «Islamischer Staat» und zahlreicher anderer Milizen ist die Beweislast überwältigend.

Fast eine halbe Million Menschen sind in Syrien in den vergangenen sechs Jahren getötet worden – mehr als neunzig Prozent durch Armee-, Polizei- und Geheimdienstangehörige Assads, wie das Syrian Network for Human Rights (SNHR) dokumentiert. Allein 2017 hat das Regime an mehr als einem Dutzend Orten Giftgas eingesetzt, wie die Vereinten Nationen in einem Bericht im September feststellten; die Opfer durch Fassbomben gehen in die Tausende. Im Februar forderte Amnesty International zudem, die staatlichen Verantwortlichen für Folter und Hinrichtungen im Hochsicherheitsgefängnis Saydnaya zur Rechenschaft zu ziehen.

Hoffnung in die Schweiz

Weil die Uno-Vetomächte Russland und China eine Überstellung dieser Fälle an den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag blockieren, lässt sich die Straflosigkeit in Syrien derzeit nur mittels des sogenannten Weltrechtsprinzips bekämpfen. Das macht es nationalen Staatsanwaltschaften möglich, auch bei im Ausland begangenen Verstössen gegen das Völkerstrafrecht aktiv zu werden. In Deutschland sind auf dieser Grundlage bereits Ermittlungen im Gange: Der Generalbundesanwalt in Karlsruhe prüft derzeit eine Anklage gegen sechs Generäle sowie weitere Funktionäre des Militärgeheimdienstes Assads.

Die Hoffnung, dass führende Angehörige des syrischen Repressionsapparats nicht ungestraft davonkommen, belebt noch ein anderer Fall. So gab die Schweizer Bundesanwaltschaft in Bern im September bekannt, dass sie gegen einen Onkel des Diktators in Damaskus ermittle: Rifaat al-Assad soll an der Ermordung Hunderter Zivilistinnen und Zivilisten in Hama beteiligt gewesen sein. Nicht während des Kriegs, sondern bereits 1982, als das Regime von Baschars Vater Hafez al-Assad Proteste der Muslimbruderschaft in der nordsyrischen Stadt brutal niederschlagen liess.

25 Jahre sind seitdem vergangen, viele Überlebende des Massakers inzwischen tot. Ein Vierteljahrhundert aber betrug auch die Zeitspanne zwischen dem Putsch Pinochets 1973 und seiner Festnahme 1998 in London. Die Angehörigen der Opfer mussten Geduld beweisen. Aber Gerechtigkeit verjährt nicht.