Es war zwischen Weihnachten und Silvester, als die Soldaten Nitza Alvarado mitnahmen. Acht Jahre ist das her. Damals waren ihre Töchter Citlali, Paola und Deisy fast noch Kinder. Heute sind sie junge Frauen auf der Suche nach der Wahrheit. Die Alvarado-Schwestern beten dafür, dass ihre Mutter am Leben sein möge – auch wenn die Situation in Mexiko keine grosse Hoffnung erlaubt.
Drei akkurat geschminkte junge Frauen mit diskreten Zahnspangen und hüftlangen braunen Haaren sitzen auf dem Sofa. Die Schwestern leben inzwischen in den USA und sehen sich zum Verwechseln ähnlich, Citlali und Paola sind sogar Zwillinge. «Nicht einmal unsere Mutter konnte uns auseinanderhalten», sagen sie. Und lächeln stolz – wie immer, wenn sie ihre Mutter erwähnen. Die drei sind selbstbewusst und aufgeweckt. Jetzt fiebern sie dem Jahresende entgegen, denn dann soll der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof über ihren Fall urteilen. Nach all den Jahren des Stillstands erwarten die Alvarados von diesem Gericht endlich Gerechtigkeit.
Die Beweislage spricht eindeutig gegen den mexikanischen Staat.
Bei der Klage geht es nicht nur um das gewaltsame Verschwinden ihrer Mutter Nitza, ihrer Cousine Rocío und ihres Patenonkels José Ángel durch das Militär, sondern auch um die erzwungene Flucht eines Grossteils der Familie. «Weil wir die Verschleppung unserer Angehörigen öffentlich gemacht haben und nicht müde geworden sind, vom Staat eine Aufklärung zu verlangen, mussten wir fliehen», sagt Citlali. Nach Ansicht von ProzessbeobachterInnen spricht die Beweislage eindeutig gegen den mexikanischen Staat. Dieser kann nur noch technische Einwände anführen, um einen Schuldspruch hinauszuzögern. Es wäre das erste Urteil gegen Mexiko wegen gewaltsamer Verschleppung durch die Militärs.
Citlali erinnert sich genau an jenen Abend im Dezember 2009, als der Patenonkel José ihre Mutter bat, sie zum Haus seiner Schwiegermutter zu fahren. Dort wurden beide vom Militär verschleppt. Wenig später entführten Soldaten auch ihre Cousine Rocío im Schlafanzug aus dem Haus.
Folterkammer und Massengrab
Citlali und Paola waren damals 14, Deisy 11. In ihrer Gemeinde Benito Juárez im Norden Mexikos tobte der Drogenkrieg, der im gesamten Land seit 2006 hunderttausenden Menschen das Leben gekostet hat. Der Ort war komplett vom Militär besetzt. Drei Monate zuvor hatten Mitglieder des Drogenkartells von Juárez eine Einsatztruppe der Bundespolizei angegriffen und dabei Beamte getötet. Der damalige Präsident Felipe Calderón schickte das Militär, um die Macht des Kartells zu zerschlagen. Der von ihm ausgerufene «Krieg gegen die Drogen» sollte bald seinen blutigen Höhepunkt erreichen.
In Benito Juárez wurden viele Menschen festgenommen. Die bäuerliche Gemeinde im Bundesstaat Chihuahua wurde, wie die benachbarte Grenzstadt Ciudad Juárez, zum Schauplatz einer Art innerstaatlichen Kriegs. Dabei griff das Militär wahllos Menschen auf, verschleppte und folterte sie. Die meisten kamen irgendwann wieder frei, viele mit eingetretener Nase oder gebrochenen Händen. Manche tauchten nie wieder auf.
Die Familie Alvarado reagierte entschlossen auf den Verlust ihrer Angehörigen: Sie erstattete sofort Anzeige, wenige Tage nach den Festnahmen hatte sie bereits einen Termin mit führenden Militärs in der Kaserne von Ciudad Juárez. Diese galt damals als Folterkammer und geheimes Massengrab. «Nur wir Frauen gingen hin, um zu vermeiden, dass sie unseren Männern etwas antun», erzählt María de Jesús Alvarado, die Schwester der verschwundenen Nitza. «Wir waren sehr wütend und sagten laut unsere Meinung. Später lagen unsere Nerven blank vor Angst.»
Oberst Élfego Luján, der damals den Einsatz in Benito Juárez anführte, sitzt mittlerweile in Haft, wegen eines anderen Falls: Im Oktober 2009 wurde ein Zivilist unter seiner Aufsicht zu Tode gefoltert. Einen Mitgefangenen, der Zeuge der Tat war, liess er umbringen. Im Jahr 2010 ordnete Luján an, zwei Soldaten hinzurichten, die angeblich zum Juárez-Kartell übergelaufen waren.
Fast 2000 Menschen gelten allein in Chihuahua als vermisst.
Es wäre relativ leicht, den verurteilten Luján nach dem Verbleib der Familie Alvarado zu befragen. Doch wahrscheinlich würde er nicht die Wahrheit sagen, um sich nicht zu belasten. Menschenrechtsorganisationen im Bundesstaat Chihuahua hoffen, dass der Interamerikanische Gerichtshof die Aushebung von Massengräbern und die Identifizierung von Leichen anordnen wird. Fast 2000 Menschen gelten allein in Chihuahua als vermisst. Und dennoch hat die mexikanische Regierung gerade dem Uno-Ausschuss über das Verschwindenlassen die Einreise ins Land verweigert.
María de Jesús Alvarado hat die Ereignisse der vergangenen acht Jahre in einem roten Ringbuch aufgezeichnet: Namen, Institutionen, Paragrafen, juristische Termini. Inzwischen weiss sie alles über Menschenrechtsverletzungen und die Verschwundenen des Drogenkriegs. Schon im Januar 2010, einen Monat nach den Vorfällen in Benito Juárez, startete Amnesty International eine Eilaktion zum Fall Alvarado. María hat alle Briefe aufgehoben, die sie damals erreichten, unter anderem aus Nürnberg und Neuseeland. Es sind zwei Schuhkartons voll.
Tausende Anzeigen
Damals überschlugen sich die Ereignisse. Die verschleppte Nitza schaffte es, anzurufen: «Sucht mich, findet mich, die Soldaten haben mich!», konnte sie gerade noch sagen, dann brach das Telefonat ab. Obwohl es bis in ein Frauengefängnis in Mexiko-Stadt zurückverfolgt werden konnte, stellte die Bundespolizei die Ermittlungen ein.
María gelang es, beim damaligen Präsidenten Felipe Calderón vorstellig zu werden, als dieser nach einem Massaker Angehörige in Ciudad Juárez besuchte. Eine surreale Situation. Er blickte María de Jesús Alvarado ernst an: «Du willst einen Krieg anfangen», sagte Calderón. «Das Militär beschützt diese Nation, es begeht keine Verbrechen. Ich werde nicht akzeptieren, dass jemand es in den Schmutz zieht», warnte er sie. «Wenn der Präsident selbst das sagt, wie kann ich dann in Mexiko Gerechtigkeit erwarten?», fragt María.
«Uns klopfte das Herz bis zum Hals, auch wenn wir nur zum Kiosk gingen.»
Die Familie Alvarado ist nicht die einzige, die Verschleppungen und andere Menschenrechtsverletzungen durch das Militär angezeigt hat. Seit 2006 sind bei der mexikanischen Menschenrechtskommission mehr als 9000 Anzeigen gegen Armeeangehörige eingegangen. Doch der Fall Alvarado ist sehr gut dokumentiert, die Verantwortlichen klar benannt. An der ersten Anhörung vor dem Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof nahmen sowohl die Familie als auch hohe mexikanische Beamte und Militärs teil. Ein ranghoher General geriet in Wut, warf einen Stuhl um und schrie: «Das hier ist eine Katastrophe!»
Die Regierung reagierte mit Drohungen. Die Angst wurde zum ständigen Begleiter der Familie, die deshalb immer wieder den Bundesstaat wechselte. Die Mädchen fürchteten sich damals selbst auf dem Weg zur Schule. «Immer waren irgendwo Soldaten», berichtet Paola. «Uns klopfte das Herz bis zum Hals, auch wenn wir nur zum Kiosk gingen.»
Neues Leben im Exil
Und doch liessen sie sich nicht einschüchtern. Weder vom Militär, noch von ihrer eigenen Trauer. «Für Citlali, Deisy und mich war es ein Schock, als wir begriffen, dass unsere Mutter morgens nie wieder in der Tür stehen würde», sagt Paola. Ihre Tante María kümmerte sich damals um die Mädchen. Sie nahmen an Therapiesitzungen teil, in denen sie Kinder mit dem gleichen Schicksal kennenlernten. Und sie trafen Mitglieder des Uno-Ausschusses über das Verschwindenlassen. «Wir begriffen allmählich, dass es Jahre oder sogar Jahrzehnte dauern könnte, etwas über den Verbleib unserer Mutter zu erfahren», erzählt Paola.
Gleichzeitig wurden die Schwestern zu Aktivistinnen: Sie waren bei Demonstrationen von Angehörigen Verschwundener in der ersten Reihe dabei, schrieben Nummernschilder von Militärautos auf und fotografierten Polizisten in Zivil. Doch im Mai 2013 wurde die Situation extrem bedrohlich. Ein Unbekannter sprach María de Jesús Alvarado an, nachdem sie in der Stadt Chihuahua eine flammende Rede gehalten hatte. Er erzählte vom Juárez-Kartell und von «nächtlicher Drecksarbeit», die es für den Gouverneur erledigen würde. María bekam Angst. «Ich ging nach Hause und sagte: ‹Packt eure Sachen, wir müssen Mexiko verlassen.›»
Von einer schmucklosen Mietswohnung im ersten Stock schauen sie nun über freie Felder bis zur Grenze. Die umstrittene Mauer zwischen Mexiko und den USA erscheint den Alvarado-Schwestern derzeit wie ein Schutzwall. Hier zwischen Ciudad Juárez und dem texanischen El Paso ist Donald Trumps Traum längst Realität. «Seit wir in den USA leben, fühlen wir uns viel ruhiger», sagt Deisy und streichelt ihren kleinen Hund. «Hier laufen uns keine Soldaten über den Weg. Wir können in Frieden leben.»
Mit zwölf Familienangehörigen gingen sie 2013 ins Exil. Kein leichtes Unterfangen. Direkt beim Grenzübertritt wurden sie getrennt und festgenommen. Die drei Mädchen kamen in Abschiebehaft nach Phoenix. Zwei Monate lang waren sie inhaftiert, gemeinsam mit anderen Kindern und Jugendlichen aus Mittelamerika. «Ich hatte Angst, allein zu bleiben, denn meine Zwillingsschwestern wurden bald volljährig und wären dann in den regulären Haftbetrieb gekommen», sagt Deisy. Ein beherzter Anwalt aus El Paso erkämpfte den Asylstatus für die Mädchen als «unbegleitete minderjährige Flüchtlinge».
Das Leben in El Paso ist einsam, ganz anders als auf dem Land in Mexiko. Die einzigen Verbündeten hier sind die anderen Exilierten aus Chihuahua: Journalisten, die sich nicht haben kaufen lassen, Aktivistinnen gegen Frauenmorde und Vertriebene aus dem Juárez-Tal, wo der Kampf um die Drogen noch heute tobt. Die drei Alvarado- Schwestern gehen zur Schule oder zur Universität und arbeiten abends als Kellnerinnen in einem Restaurant. Freitags ist Karaoke-Abend. Die mittlerweile 19-jährige Deisy singt dann leidenschaftlich mexikanische Schlager.
Nur manchmal fahren Citlali, Paola und Deisy über die Grenze in das Haus ihrer Mutter zurück. Viel Zeit verbringen sie dort nicht. Es ist wie der Besuch in einem Mausoleum. Sie huschen durch die Räume, in denen seit acht Jahren alles unberührt geblieben ist. Wegwerfen wollen sie nichts. Bis letztes Jahr haben sie ihrer Mutter sogar manchmal noch kleine Geschenke gekauft.
Auf einem internationalen Treffen von Menschenrechtlern fragte jüngst jemand, ob sie noch stolz sein könnten auf ihr Land. Paola sagte: «Nein, denn es hat uns unsere Mutter genommen.» Im August haben sie und ihre Zwillingsschwester an der Universität von El Paso ein Jurastudium begonnen. Die Verteidigung der Menschenrechte ist nun ihr erklärtes Lebensziel.
Kathrin Zeiske ist freischaffende Journalistin und lebt in Mexiko.