Aufwühlende Aussagen: Öffentliche Anhörung in Tunis. © Thierry Brésillon
Aufwühlende Aussagen: Öffentliche Anhörung in Tunis. © Thierry Brésillon

MAGAZIN AMNESTY Jetzt erst Recht Zeugnis ablegen

Von Thierry Brésillon. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Dezember 2017.
Tunesiens Wahrheitskommission soll die staatlichen Verbrechen aus den Jahren der Diktatur aufarbeiten. Tausende Opfer wurden befragt und unzählige Dokumente ausgewertet. Die schmerzhaften Zeugenaussagen gaben einiges ausgelöst.

Sami Brahem sass acht Jahre in Haft. Wegen Nähe zur islamistischen Partei Ennahdha hatte man ihn 1991 festgenommen und mehrmals gefoltert. Als einer der ersten Zeugen der tunesischen Wahrheitskommission nimmt er an der ersten von bislang zehn öffentlichen Anhörungen teil. «Am 20. März 1994, dem Unabhängigkeitstag, wurden die Gefangenen nackt im Hof zusammengetrieben», berichtet er. «Mit Stockschlägen zwangen die Wärter sie, sexuelle Handlungen zu vollziehen – alles unter der Aufsicht des Anstaltspsychologen.» Die Anhörung von Brahem wird wie alle Anhörungen live im Fernsehen übertragen. Organisiert hat das die «Instanz für Wahrheit und Würde»(Instance Vérité Dignité IVD). Die IVD wurde 2013 durch ein Gesetz geschaffen und im Juni 2014 eingerichtet. Sie wurde beauftragt, Licht in die Verbrechen der Diktaturen seit Ende der Kolonialzeit und während der Regime der tunesischen Präsidenten Habib Bourguiba (1957–1987) und Zine el-Abidine Ben Ali (1987–2011) zu bringen. Die tunesische Wahrheitskommission, deren Mandat im kommenden Juni ablaufen wird, hat bisher beinahe 63 000 Akten erhalten und mehr als 42 000 Personen angehört.

Die öffentlichen Anhörungen enthüllen die dunkelsten Machenschaften der tunesischen Regime. Sie belegen vor allem die Folter, die systematisch gegen Oppositionelle angewandt wurde – gegen Mitglieder der extremen Linken ebenso wie gegen Islamisten und Islamistinnen.

Die Zeugenaussagen zwingen, die eigene Haltung zu hinterfragen: Wie gross war die eigene Gleichgültigkeit, wie gross die Feigheit angesichts des Leidens der Opfer?

Frauen legten die tragischsten Zeugnisse ab und brachen dabei ein Tabu. Sie sprachen über sexuelle Gewalt, die die Folterer systematisch anwandten. So erzählte Meherzyia Ben Abed, eine islamistische Aktivistin: «Die Polizisten waren gut vorbereitet. Zunächst begannen sie mit schmutzigen Worten. Dann zogen sie uns Frauen aus und sagten: ‹Wenn du ein anständiges Mädchen wärst, dann würdest du nicht nackt hier stehen.› Und dann machten sie weiter bis…» Ohne hier auf die Details der erzählten Folter einzugehen: Verschiedenste Aussagen beschrieben die grausamen Szenen, die für viele Opfer bis heute physische wie psychische Folgen haben.

Diese emotionsgeladenen öffentlichen Zeugenaussagen haben die tunesische Öffentlichkeit aufgewühlt. Sie zwingen jeden und jede Einzelne, die eigene Haltung während jener Epoche zu hinterfragen: Wie gross war die eigene Gleichgültigkeit, wie gross die Feigheit angesichts des Leidens der Opfer? Wie mächtig war die stillschweigende Akzeptanz der herrschenden Verhältnisse? Und inwiefern haben einige wenige von der kollektiven Verdrängung in diesen dunklen Jahren profitiert?

Hoffen auf Neubeginn

Indem die Zeugenaussagen öffentlich gemacht wurden, sollen sie in Tunesien einen Neubeginn ermöglichen. Viele Opfer haben Unterstützung und Dank erfahren, was dazu beitragen kann, dass sie wieder Vertrauen in die Gesellschaft schöpfen.

Die Aufarbeitung der Vergangenheit stellt wichtige Fragen an die Zukunft: Wer ist überhaupt noch berechtigt, dem Staat zu dienen? Birgt der politische Bruch seit 2011 auch einen Bruch mit der nationalen Geschichtsschreibung? Sechs Jahrzehnte lang hatte nur der Staat die «legitime» Version der Geschichte erzählt. Nun finden die Bürgerinnen und Bürger ihre eigene Stimme wieder: Anders als zuvor wird die Vielfalt ideologischer Strömungen sichtbar, die beim Aufbau des unabhängigen Staates Tunesien miteinander konkurriert hatten und die jahrelang unterdrückt worden waren. Eine neue Geschichte des Landes entsteht, ein neues historisches Gedächtnis, das die Gesellschaft mehr eint denn spaltet.

Doch hat die Übergangsjustiz, an der sich die IVD versucht, ihre Versprechen halten können? Die feierlichen Reden, die im Rahmen der Anhörungen gehalten wurden, und die tiefen Gefühle, die die Zeugenaussagen auslösten, mögen den Opfern auf ihrem psychischen Heilungsweg helfen. Doch die Übergangsjustiz hat andere Aufgaben: Sie soll nicht nur die Wahrheit ans Licht bringen, sondern die Verantwortlichen identifizieren, Irrtümer korrigieren und Institutionen reformieren, damit sich solche Verbrechen nicht wiederholen können. Dieses Modell aus den Handbüchern internationaler Organisationen basiert auf der Idee, dass die Vergangenheit vollständig aufgearbeitet werden muss, damit eine demokratische Ordnung aufgebaut werden kann. Damit ist das von Tunesien gewählte Modell das Gegenteil des Weges, den zum Beispiel Spanien nach dem Tod Francos im Jahre 1975 gegangen ist: Der Grundsatz«Amnestie und Vergessen» sollte damals vermeiden, dass die Konflikte der Vergangenheit den demokratischen Übergang belasten.

Viel Konflikte, wenig Konsequenzen

Tunesiens Entscheidung, die politische Geschichte bis 2011 aufzuarbeiten, birgt Konfliktpotenzial. Für die Legitimation der autoritären Regime spielte die Benennung eines inneren Feindes eine wichtige Rolle. Dieser Feind war in Tunesien die islamistische Partei Ennahdha. Eine ganze Generation von Kadern der Sicherheitskräfte und der Verwaltung, von Intellektuellen und politischen AktivistInnen hatte gelernt, den wachsenden Einfluss von Ennahdha zu bekämpfen. Doch nun ist die Ennahdha ein normaler politischer Player; ihre Aktivistinnen und Aktivisten sitzen bei den Anhörungen der IVD auf der Seite der Opfer – ein Zustand, der die mächtigen Schichten im Land erst einmal irritiert.

Die Enthüllungen der Anhörungen haben bislang kaum Konsequenzen gehabt. Wenige Monate vor Beendigung des IVD-Mandats existieren die Spezialgerichte, die nun übernehmen sollten, immer noch nicht. Die Verfassung von 2014 wird kaum angewandt, voraussichtlich wird sie sogar bald revidiert, um die Macht wieder in den Händen des Präsidenten zu konzentrieren. Die Empfehlungen der IVD werden wohl kein politisches Gewicht haben.

Doch die Familien der Toten und der Verletzten bleiben unbeugsam. Einer von ihnen ist Moslem Kasdallah, dessen Bein am 13. Januar 2011 von einer Kugel zerschmettert wurde. Er hatte sich damals an einem Treffen des Stadtteilkomitees beteiligt, um zu besprechen, was man gegen die Provokationen des Ben-Ali-Regimes tun könnte. «Ich werde erst wieder ruhig schlafen, wenn ich weiss, dass die Mütter der Märtyrer und Verletzten das Gefühl haben, dass ihren Kindern Gerechtigkeit widerfahren ist», sagt er.

Thierry Brésillon ist freischaffender Journalist und lebt in Tunesien.