Vor seiner Flucht isst Herr Hoang noch einen letzten Teller Pho – die Nudelsuppe ist Vietnams Nationalgericht. Dann packt er seinen Koffer und macht sich auf den Weg. Er hat sein Handy, einen Computer, Kleidung und ein paar Ersparnisse dabei. Herr Hoang verabschiedet sich von niemandem. Seine Freunde und Verwandten sollen sich keine Sorgen machen. Er will auch nicht, dass jemand versucht, ihn von seinem Plan abzubringen. Herr Hoang ist fest davon überzeugt, dass er das Richtige tut: In Saigon kann er nicht länger bleiben. In seiner Heimat ist es zu gefährlich geworden.
Vietnams Ein-Parteien-Herrschaft unterdrückt abweichende Meinungen seit der Wiedervereinigung vor vier Jahrzehnten.
Herr Hoang ist ein vietnamesischer Dissident. Vor sechs Jahren begann er damit, sich politisch zu engagieren. Er ging zu Demonstrationen und schrieb Artikel und Blog-Einträge, in denen er das kommunistische Regime in seiner Heimat kritisierte. Ungefährlich war das noch nie: Vietnams Ein-Parteien-Herrschaft unterdrückt abweichende Meinungen seit der Wiedervereinigung vor vier Jahrzehnten. Kritiker und Kritikerinnen des Regimes werden regelmässig zu Haftstrafen verurteilt. In den vergangenen Monaten stieg der Druck aber spürbar: Dutzende Oppositionelle kamen ins Gefängnis. Menschenrechtsorganisationen sprechen von einem beispiellosen Durchgreifen gegen die freie Meinungsäusserung.
«China ist nicht das Problem»
Zwei Monate nach seiner Flucht geht Herr Hoang durch ein Wohnviertel in der thailändischen Hauptstadt Bangkok. Er trägt ein unauffälliges Kurzarmhemd, Sandalen und eine Dreiviertelhose. Der Lärm der Grossstadt ist hier nur noch als leichtes Rauschen zu hören, Kinder spielen auf der Strasse, nur alle paar Minuten fährt ein Auto vorbei. Zwischen Herrn Hoang und seiner alten Heimat liegen mehr als 700 Kilometer und zwei Landesgrenzen. Richtig sicher fühlt sich der über 40 Jahre alte Mann aber immer noch nicht. Er fürchtet, dass ihn das vietnamesische Regime auch im Ausland aufspüren könnte. Er verweist auf den Fall von Trinh Xuan Thanh, einem ehemaligen Manager bei einem Staatskonzern, der in Deutschland Asyl suchte. Er sei vom vietnamesischen Geheimdienst zurück in seine Heimat verschleppt worden, davon seien auch die deutschen Ermittlungsbehörden überzeugt. «Ich versuche, so weit wie möglich unerkannt zu bleiben», sagt der Aktivist. Hoang ist deshalb auch nicht sein echter Name. Er will seine Geschichte nur unter einem Pseudonym erzählen.
Sie beginnt mit der Wut auf Vietnams grossen Nachbarn: China. Das Land ist bei vielen Vietnamesinnen und Vietnamesen unbeliebt – besonders weil die chinesische Regierung mit Vehemenz Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer anmeldet. Inselgruppen, die Pekings Führung für sich reklamiert, sehen auch die VietnamesInnen als die ihren. Herr Hoang bezeichnet sich selbst als Patrioten. Er sah es deshalb als selbstverständlich an, öffentlich dagegen zu protestieren, als China 2011 ein Erkundungsschiff in das umstrittene Gebiet schickte. Doch Vietnams Regierung liess die Demonstrierenden nicht lange gewähren. Sie befahl ein Ende der Proteste und liess Medienberichten zufolge Dutzende Aktivistinnen und Aktivisten festnehmen. «Mir wurde da bewusst, dass das eigentliche Problem für uns nicht in Peking liegt, sondern in Hanoi», erzählt Hoang in ruhigem, sachlichem Ton. «Ich habe dann angefangen, mich auf Menschenrechtsverletzungen zu fokussieren und darüber zu schreiben.»
Überwachung nimmt zu
Dass die Menschenrechtslage in Vietnam verheerend ist, bestätigen auch Studien internationaler Organisationen. Die liberale Denkfabrik Freedom House führt Vietnam in ihrem Jahresbericht 2018 als eines der unfreisten Länder der Welt auf. Die Organisation Reporter ohne Grenzen listet Vietnam in ihrem Pressefreiheitsindex auf Rang 175 von 180 untersuchten Ländern. Amnesty International betrachtet 90 Personen als gewaltlose politische Gefangene, wie James Gomez, Amnesty-Regionaldirektor in Südostasien, berichtet.
Wie sehr die Festnahmen Vietnams Menschenrechtsszene verunsichern, hat James Gomez im November während einer Konferenz für südostasiatische AktivistInnen auf den Philippinen erlebt. Viele der vietnamesischen Teilnehmenden stachen hervor: Sie trugen Sticker auf ihren Jacken und Hemden – mit der Bitte, sie nicht zu fotografieren. Ein Bild reiche schon aus, um in den Fokus der Behörden zu geraten, lautete die Befürchtung. «Die staatlichen Überwachungsaktionen nehmen zu», sagt Gomez.
Staatsfeindlichen Propaganda – ein gängiger Vorwurf, um Kritikerinnen und Kritiker mundtot zu machen.
Die Sorge der AktivistInnen erscheint berechtigt. Mehrfach machte Vietnam mit seinem harten Vorgehen gegen Dissidenten international Schlagzeilen: Im Oktober wurde der 24 Jahre alte Blogger Phan Kim Khanh zu sechs Jahren Haft verurteilt. Das Regime beschuldigt ihn der staatsfeindlichen Propaganda – einer der gängigen Vorwürfe, um Kritikerinnen und Kritiker mundtot zu machen. Im September erhielt der 36-jährige Menschenrechtler Gioan Nguyen Van Oai eine fünfjährige Gefängnisstrafe – wegen eines angeblichen Verstosses gegen seine Bewährungsauflagen. Er hatte zuvor gegen eine Stahlfirma protestiert, die 2016 giftige Chemikalien ins Meer leitete und damit ein massenhaftes Fischsterben auslöste. An Demonstrationen wurde eine Mitverantwortung der Regierung postuliert. An den Protesten war auch Nguyen Ngoc Nhu Quynh beteiligt – eine der populärsten Bloggerinnen Vietnams, die unter dem Spitznamen Mother Mushroom bekannt ist. Sie schrieb über Meinungsfreiheit und Polizeigewalt. Im Juni wurde sie zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.
Gefährliche Blogs
Herr Hoang, der in Vietnam jahrelang von der Zivilpolizei überwacht und immer wieder daran gehindert wurde, an Protesten und Aktivistentreffen teilzunehmen, bekam vor einigen Monaten eine Warnung: Befreundete RegimegegnerInnen hatten Informationen, die nahelegten, dass auch ihm eine Anklage drohe. Herr Hoang entschloss sich daraufhin zur Flucht.
Nicht alle seiner MitstreiterInnen haben jedoch das Land verlassen. Der Blogger Nguyen Chi Tuyen aus Hanoi, der unter dem Namen Anh Chi bekannt ist, will bleiben – obwohl er sich alles andere als sicher fühlt. «Sie können festnehmen, wen immer sie wollen», sagt er. «Aber ich habe keine Angst. Ich bin bereit, Opfer zu bringen, für das Land und seine Bewohner. » Anh Chi ist 43 Jahre alt. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder im Teenageralter. Er arbeitet als Vietnamesischlehrer und Übersetzer. Der Hauptgrund, weshalb jahrelang Zivilpolizisten vor seinem Haus positioniert waren, sind aber seine Aktivitäten im Internet. Anh Chi betreibt eine politische Facebook-Seite mit mehr als 40 000 Abonnentinnen und Abonnenten. «Ich kämpfe für meine Werte: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte », sagt er.
Wie gefährlich diese Arbeit ist, offenbart Anh Chis Facebook-Seite. In der linken Spalte ist der Blogger mit blutüberströmten Gesicht zu sehen. Das Foto stammt aus dem Mai 2015: Anh Chi hatte gerade seinen Sohn zur Schule gebracht und fuhr mit seinem Moped nach Hause. Fünf Männer verfolgten ihn und hielten ihn an. Sie schlugen mit Fäusten, Stöcken und Ziegelsteinen auf ihn ein. Die Attacke endete erst, als Passanten anhielten, um ihm zu helfen. Bestraft wurde für den mutmasslichen Einschüchterungsversuch niemand.
«Es ist ein tödliches Spiel mit einem gigantischen Gegner», sagt der Aktivist über seine Arbeit. Doch auch nach dem Angriff und der jüngsten Offensive der Behörden gegen Menschenrechtlerinnen und Dissidenten will er damit nicht aufhören: «Die vietnamesische Bevölkerung verlangt den Wandel, und niemand wird diesen Wandel aufhalten können.»
«Das kommunistische Regime hat Angst vor den Bürgern, die nach und nach ihre Rechte kennenlernen.» Blogger Anh Chi
Gründe für das zuletzt besonders harte Vorgehen gegen Aktivistinnen und Aktivisten sehen BeobachterInnen unter anderem in einem Machtwechsel innerhalb der Kommunistischen Partei, der konservative Hardliner an die Spitze brachte – und am geschwundenen Interesse der USA an Menschenrechtsfragen, Vietnams wichtigstem Verbündeten. Anh Chi hält einen weiteren Grund für entscheidend: «Das kommunistische Regime hat Angst vor den Bürgern, die nach und nach ihre Rechte kennenlernen.»
Für Herrn Hoang hat unterdessen im Exil in Bangkok ein neuer Kampf um seine Rechte begonnen. Thailand hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet. Politisch Verfolgten garantiert das Land deshalb keinen Schutz. Hoang muss die Abschiebung fürchten. Seine Zeit verbringt er hauptsächlich in einem Zimmer, das er sich am Stadtrand gemietet hat. «Ich versuche, nicht aufzufallen », sagt er. Seine kritischen Artikel schreibt er aber auch im Exil weiter.