Die meisten «Algerienfranzosen» – die sogenannten Pied-noirs – waren anders als Joseph Andras gegen eine Unabhängigkeit Algeriens. Tausende von ihnen mussten während des Unabhängigkeitskrieges ins Mutterland fliehen, so kam es oft zu Gedränge vor dem Schalter für Ausreisegenehmigungen, wie hier in Oran 1962. © KEYSTONE / STR
Die meisten «Algerienfranzosen» – die sogenannten Pied-noirs – waren anders als Joseph Andras gegen eine Unabhängigkeit Algeriens. Tausende von ihnen mussten während des Unabhängigkeitskrieges ins Mutterland fliehen, so kam es oft zu Gedränge vor dem Schalter für Ausreisegenehmigungen, wie hier in Oran 1962. © KEYSTONE / STR

MAGAZIN AMNESTY Kultur Die verdrängte Schuld

Von Ulla Bein. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2018.
In der wahren Geschichte von Fernand Iveton beleuchtet der französische Schriftsteller Joseph Andras ein wenig bekanntes Kapitel des Algerienkrieges.

Die historischen Fakten sind bekannt, obwohl die Dokumente zu dieser unrühmlichen Episode französischer Geschichte auf mysteriöse Weise verschwunden sind: Fernand Iveton, ein junger Pied-noir, wurde nach einem missglückten Attentat in Algier verhaftet, gefoltert und am 11. Februar 1957 schliesslich hingerichtet. Hintergrund ist der Unabhängigkeitskampf der algerischen Bevölkerung nach mehr als 120 Jahren französischer Kolonialherrschaft. Wie Fernand Iveton wurden im Algerienkrieg fast 200 Menschen hingerichtet – Iveton war jedoch der einzige mit französischer Abstammung.

Doch der Reihe nach: In Joseph Andras’ Roman «Die Wunden unserer Brüder» setzt die Handlung kurz vor der Übergabe der Bombe ein, die Iveton in der Fabrik, in der er arbeitet, deponieren will. Die Bombe soll am Abend explodieren, nachdem alle das Gebäude verlassen haben. Iveton will ein Zeichen setzen, nur Sachschaden anrichten. Doch zur Explosion kommt es nicht, offenbar wurde er beobachtet, ganz sicher denunziert. Fernand Iveton wird verhaftet, der Sprengsatz entschärft. Von einer weiteren Bombe ist die Rede. Wo ist sie? Und vor allem: Wer sind Ivetons Komplizen? Militärs, die die französische Staatsmacht in Algerien verkörpern, verhören ihn. Als er sich weigert, auszusagen, greifen sie zur Folter.

Fernand und Hélène

Joseph Andras beschreibt die Vorgänge mit nüchterner Distanz, aber nicht ohne Empathie. In trockenen Sätzen schildert er die Geschichte und Beweggründe Fernand Ivetons, seine Kindheit in Algier, das Engagement in der Kommunistischen Partei (die schon sein Vater unterstützte), seine Überlegungen zum Attentat, die Verhaftung. Er beschreibt schonungslos die Brutalität der französischen Militärs.

Ein zweiter Strang des Romans wird entwickelt, und mit ihm zieht Joseph Andreas ganz andere sprachliche Register: Iveton ist in Frankreich, als er Hélène, seine spätere Ehefrau, kennenlernt. Wie sich die Liebe, die im Verlauf des Romans so viel aushalten wird, zwischen diese beiden Menschen entspinnt, ist von einer ausserordentlich zarten Poesie getragen. Hélène weiss vom Engagement ihres Ehemanns, aber sie kennt – auch zu ihrem eigenen Schutz – keine Details. «Es sei ihr nicht wichtig gewesen zu wissen, ob sein Herz links oder rechts schlüge, Hauptsache, es schlug in ihrer Nähe.»

In Rückblenden wird wechselweise aus den Perspektiven von Fernand und Hélène dieses Kapitel französischer Geschichte wiedergegeben. Obwohl der Ausgang bekannt ist, vermag der Autor grosse Spannung aufzubauen, ja sogar Hoffnung, dass das Schicksal sich wenden könnte.

Für diesen Roman wurde Joseph Andras der Prix Goncourt für den besten Debütroman zuerkannt. Die deutschsprachige Literaturkritik feierte den Roman als Meisterwerk. Einem neuen Buch von Joseph Andras sieht die Rezensentin jedenfalls gespannt entgegen und hofft, dass wieder die kenntnisreiche und geschliffene Übersetzung von Claudia Hamm das Werk abrunden wird.