Tränengas und scharfe Munition – damit antwortet die kongolesische Polizei immer öfter auf politische Proteste. Seit einem Jahr geht die Bevölkerung in vielen Landesteilen der Demokratischen Republik Kongo auf die Barrikaden. Der Grund: Staatschef Joseph Kabila weigerte sich im Dezember 2016 zurückzutreten, obwohl seine Amtszeit abgelaufen war. Bis heute hält er sich in der Hauptstadt Kinshasa an der Macht. Die fälligen Wahlen verschleppt er mit wechselnden Argumenten.
Das vorletzte Januarwochenende war geradezu symptomatisch für den Stand der politischen Auseinandersetzung in dem ressourcenreichen zentralafrikanischen Staat: Für Sonntag, den 21. Januar 2018, hatte die katholische Kirche mit Unterstützung der muslimischen Gemeinschaft und Teilen der protestantischen Kirche wieder einmal zu friedlichen Protesten in der Hauptstadt aufgerufen. Die Regierung hatte die Märsche im Vorfeld verboten. Wie zufällig fiel das Internet am Tag vor den geplanten Demonstrationen in vielen Landesteilen aus.
Trotzdem fand der Marsch in Kinshasa am Sonntag nach der Morgenmesse statt. Die Polizei reagierte mit Gewalt. Medienberichten zufolge wurden mindestens sechs Menschen getötet und mehr als 50 verletzt. Hunderte friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten nahmen die Sicherheitskräfte fest. Auch in den Städten Goma und Bukavu im Osten des Landes und der Stadt Mbuji-Mayi in den Diamantengebieten kam es zu Ausschreitungen mit Dutzenden Verletzten und vielen Festnahmen.
«Barbarei»
Es war nicht die erste Eskalation zwischen staatlichen Sicherheitskräften und Demonstrantinnen und Demonstranten, die einem Aufruf der katholischen Kirche gefolgt waren. Die Kirche geniesst im Land hohes Ansehen und bezieht auch politisch Stellung. Schon am 31. Dezember 2017 hatten katholische Geistliche zu Friedensmärschen aufgerufen. Polizei und Sicherheitskräfte gingen mit massiver Gewalt gegen KirchgängerInnen und Priester vor, schossen in die demonstrierende Menge. Die Bilanz: mindestens neun Tote, zahlreiche Verletzte und unzählige Festnahmen. Der kongolesische Kardinal Laurent Monsengwo sprach von staatlicher «Barbarei». Hunderte Menschen landeten in den vergangenen Monaten im Gefängnis.
Allein in Kasai wurden durch den bewaffneten Konflikt im Jahr 2017 mehr als 1,4 Millionen Menschen vertrieben.
Doch nicht nur die politischen Proteste nehmen zu, sondern auch die bewaffneten Kämpfe. Vor allem in der Provinz Zentral-Kasai spitzt sich die Lage zu. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wurden dort in den vergangenen Monaten Hunderte Menschen getötet. Der bewaffnete Konflikt in der Region begann im August 2016 nach dem Tod von Kamwina Nsapu. Der Milizenführer kämpfte mit seinen Truppen gegen Präsident Joseph Kabila – und wurde von Soldaten getötet. Seither eskaliert in Kasai die Gewalt. Ende März 2017 wurden 39 kongolesische Polizisten in einem Hinterhalt getötet und enthauptet. Kurz zuvor waren zwei Mitarbeiter der Vereinten Nationen entführt worden, ihre Leichen fand man zwei Wochen später. Allein in Kasai wurden durch den bewaffneten Konflikt im Jahr 2017 mehr als 1,4 Millionen Menschen vertrieben.
Mehr als 80 Massengräber haben die Vereinten Nationen im vergangenen Jahr in Kasai entdeckt, doch die Regierung verhindert eine Untersuchung der dahinterliegenden Verbrechen. Der Uno-Menschenrechtsbeauftragte Zeid Ra’al Al Hussein hat schon im Sommer dazu aufgefordert, die Menschenrechtsverletzungen im Kongo zu untersuchen, darunter Massenhinrichtungen, den Missbrauch von Kindern als Soldaten und sexuelle Gewalt. Laut den Vereinten Nationen ist die Zahl der Menschenrechtsverletzungen 2016 im Vergleich zum Vorjahr um 30 Prozent gestiegen. Zwei Drittel dieser Verbrechen werden demnach von staatlichen Sicherheitsorganen begangen, nur ein Drittel von Rebellen und Milizen. Die Uno-Mission MONUSCO kann die Bevölkerung offensichtlich nicht schützen, obwohl sie mit ihren 16 000 Soldaten zu den weltweit stärksten gehört. Weil Massaker praktisch vor ihren Augen verübt werden, ohne dass die Blauhelme rechtzeitig einschreiten, wird die MONUSCO seit Jahren immer wieder kritisiert.
Dramatische Appelle
Daniel Ruiz, der die MONUSCO in der ostkongolesischen Metropole Goma leitet, gibt einen Teil der Kritik an die kongolesischen Sicherheitskräfte weiter. Die Uno- Mission ist laut Mandat dazu verpflichtet, mit dem kongolesischen Staat zusammenzuarbeiten. Dabei seien die Sicherheitskräfte im Kongo «leider nicht immer gut ausgebildet», sagte Ruiz bei einem Interview im Frühjahr 2017. «Es gibt häufig Elemente unter ihnen, die Verbrechen begehen.» Die MONUSCO arbeite in begrenztem Masse mit der Führungsebene zusammen, um Soldaten und Polizeikräfte, die schwere Fehler begehen, zu disziplinieren. Und sie kooperiert auch mit Militärgerichten, um diejenigen zu bestrafen, die schwere Verbrechen verüben. «Leider gibt es trotzdem regelmässig Übergriffe. Es wäre wünschenswert, dass in naher Zukunft die Disziplin von Polizei und Militär strenger wäre, sodass sich diese Dinge nicht mehr wiederholen.»
Trotz aller diplomatischen Zurückhaltung macht Daniel Ruiz deutlich, dass seiner Meinung nach viele von der wachsenden Gewalt profitieren. «Bestimmte Mitglieder bewaffneter Gruppen stehen kriminellen Netzwerken nahe und bereichern sich persönlich an den Mineralien und anderen Ressourcen des Landes», sagt der UN-Diplomat. «Das gilt für fast alle bewaffneten Gruppen.» An Bodenschätzen ist der Kongo reich, zum Beispiel an Gold, Koltan und Diamanten. Laut Ruiz haben einige Milizen bisweilen auch eine politische Agenda. Doch andere hätten alle politischen Ziele verloren und wollten sich ausschliesslich bereichern: durch Schmuggel unterschiedlichster Ressourcen oder durch Zwangsabgaben, die sie von der Bevölkerung erpressen.
Die anhaltende Gewalt hat den Kongo in eine dramatische humanitäre Krise gestürzt. Die Hilfswerke der Vereinten Nationen haben im Oktober 2017 für das Land die höchste humanitäre Alarmstufe ausgerufen. Allein in Kasai zählt die Uno rund 1,7 Millionen Binnenvertriebene. Landesweit sind fast vier Millionen Menschen auf der Flucht. Ihnen wird weit weniger Hilfe zuteil, als sie brauchten. Dramatische Appelle werden deshalb häufiger. Im Dezember warnte erst das Uno-Welternährungsprogramm WFP vor einer Hungerkrise im Kongo. WFPDirektor Claude Jibidar sagte, dass ohne sofortige Unterstützung vor allem viele Frauen und Kinder bald sterben würden. In der gesamten Region brauchten mehr als drei Millionen Menschen Nahrungsmittelhilfe. Das WFP habe aber aus Geldmangel seine normalen Rationen bereits halbieren müssen.
In der Provinz Kasai drohen mindestens 400'000 Kinder zu verhungern.
Kurz darauf folgte das Uno-Kinderhilfswerk Unicef mit einer dramatischen Warnung: In der Provinz Kasai drohten mindestens 400'000 Kinder zu verhungern. Grund seien die anhaltende Gewalt und die Vertreibungen. Im Zentrum des Kongo seien darüber hinaus 750'000 weitere Kinder unterernährt. Auch ihnen ist letztlich nur mit einer Lösung der politischen Krise zu helfen.