Zunächst verwendete die Politikwissenschaft – später auch die Medien – den Begriff Populismus in Europa, um nicht mehr von Rechtsextremismus oder Faschismus zu sprechen. So vor allem in Frankreich zur Zeit der ersten Erfolge des Front National in den achtziger Jahren», erklärt Antoine Chollet. Der Politikwissenschaftler an der Universität Lausanne definiert Populismus als Verteidigung der Volkssouveränität und der Demokratie. Seiner Meinung nach «trägt der Populismus ein radikales Reformprojekt in sich, das in einem demokratischen Rahmen bleibt». Parteien wie die SVP oder der Front National, die keine weitreichenden Reformen des bestehenden politischen Systems vorschlagen oder gar den demokratischen Rahmen angreifen, sieht er daher nicht als populistisch.
«Populismus ist einerseits durch eine fast kultische Verehrung des Volkes gekennzeichnet. Andererseits auch dadurch, dass ein ‹Volkstribun› an ebendieses Volk appelliert.» Pierre-André Taguieff, Philosoph und Politikwissenschaftler
Ganz anders die Definition des französischen Philosophen und Politikwissenschaftlers Pierre-André Taguieff. Ihm zufolge ist der Populismus «einerseits durch eine fast kultische Verehrung des Volkes gekennzeichnet – insbesondere von Volksschichten, die als ‹gesund›, ‹ehrlich›» oder ‹authentisch› gefeiert werden. Andererseits auch dadurch, dass ein ‹Volkstribun› an ebendieses Volk appelliert». Taguieff präzisiert zwar, dass Populismus mit jeder politischen Richtung kompatibel ist. In seiner Analyse konzentriert er sich dennoch vor allem auf Führungspersonen der extremen Rechten wie Donald Trump, Viktor Orbán oder Marine Le Pen. Sie behaupten, sie würden sich dem herrschenden System entgegenstellen, indem sie die Einwanderung oder den Islam angreifen. Es sind «talentierte Demagogen, die die Misserfolge der alten Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Parteien ausnutzen – eine Dynamik, die durch den Dschihad-Terrorismus verstärkt wird».
«Ein Populist behauptet, ‹für das Volk› zu sprechen, indem er sich den Eliten widersetzt, obwohl er oft selbst Mitglied dieser Elite ist.» Ashfaq Khalfan, Leiter des Programms für Recht und Politik bei Amnesty International
Laut Ashfaq Khalfan, Leiter des Programms für Recht und Politik bei Amnesty International, kann Populismus legitime Forderungen und positive Ansätze zur Stärkung des Wohlfahrtsstaates beinhalten. Populismus werde aber dann problematisch, wenn er versucht, bestimmte Gruppen in der Gesellschaft ihrer Grundrechte zu berauben, so Ashfaq Khalfan. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Rodrigo Duterte auf den Philippinen Drogenabhängige stigmatisiert und ihre Eliminierung aus der Gesellschaft fordert. Oder wenn der Front National in Frankreich Muslime und Flüchtlinge dämonisiert. Ashfaq Khalfan weist auch auf das Paradox hin, das oft im Zentrum populistischer Bewegungen steht: «Ein Populist behauptet, ‹für das Volk› zu sprechen, indem er sich den Eliten widersetzt, obwohl er oft selbst Mitglied dieser Elite ist.»
Verwischte Fronten
Der Populismus kann ganz unterschiedliche Formen annehmen, je nachdem, in welchen Regionen er sich entfaltet und welche ideologischen Elemente – links oder rechts – er absorbiert. Die politische Führung in Polen, Ungarn und der tschechischen Republik ist beispielsweise ebenso demagogisch wie westeuropäische Populisten, aber viel autoritärer, beobachtet Pierre-André Taguieff. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal bestehe in der «Rolle, die der Bewahrung der christlichen Identität zugeschrieben wird, mit welcher die Ablehnung von Immigration und der Anti-Islamismus einhergehen». Demgegenüber ist «die beharrliche Verteidigung des Säkularismus – die sich beispielsweise im Diskurs des neuen Front National in Frankreich widerspiegelt – dem identitären Populismus in Osteuropa fremd».
«Linkspopulismus bestimmt den Feind im Allgemeinen aufgrund der sozialen und wirtschaftlichen Klasse und zielt gegen nationale und ausländische Eliten», sagt Ashfaq Khalfan von Amnesty International. Aber es gebe Fälle, in denen auch linke Populisten bestimmte ethnische Gruppen angreifen. «Vor allem, wenn die Populisten glauben, diese Gruppen würden die Elite dominieren. Linkspopulisten fordern häufig mehr staatliche Marktregulierung, während Rechtspopulisten meist weniger staatliche Kontrolle wollen – vor allem, wenn ihre Basis aus Kleinunternehmern besteht», so Ashfaq Khalfan.
Auch rechtspopulistische Bewegungen greifen in gewissem Umfang traditionell linke Themen auf – unter Beibehaltung ihrer rassistischen Grundhaltung. «In den vergangenen Jahren hat der Front National zum Beispiel den Schutz des Wohlfahrtsstaates und den Schutz marginalisierter ländlicher Regionen verlangt», stellt Ashfaq Khalfan fest. «Durch die Aufnahme sozialer Forderungen konnten populistische Parteien viele Wähler und Wählerinnen für sich gewinnen, die zuvor traditionell für sozialistische und kommunistische Parteien gestimmt hatten.»
«Durch die Aufnahme sozialer Forderungen konnten populistische Parteien viele Wähler und Wählerinnen für sich gewinnen, die zuvor traditionell für sozialistische und kommunistische Parteien gestimmt hatten.» Ashfaq Khalfan
Für Pierre-André Taguieff machen die Zuschreibungen «links» oder «rechts» eigentlich keinen Sinn mehr in einer Zeit, «in welcher eigentlich die moderate, globalisierungsfreundliche Mitte auf der einen Seite und die extremen Globalisierungskritiker auf der anderen Seite die Rolle der Opposition übernehmen».
Der Wahlerfolg von Donald Trump hat den populistischen Bewegungen Auftrieb gegeben, schätzt Pierre-André Taguieff. «Seine Erfolgswelle hat gezeigt, dass der Hass und die Ablehnung der Elite durch die Unterprivilegierten wie auch der Globalisierungsverlierer erfolgreich ausgenutzt werden können, um an die Macht zu gelangen.» Antoine Chollet hingegen lehnt es ab, Trump als Populisten zu bezeichnen, denn der Wissenschaftler ist davon überzeugt, dass Trump vielmehr Methoden der extremen Rechten anwendet: «Dazu gehört es, über die Gegner zu sprechen statt über politische Themen. Dazu gehört aber auch ein paranoider Blick auf Politik und Gesellschaft.»
Der Widerspruch der direkten Demokratie
Die direkte Demokratie in der Schweiz ist dem Populismus dienlich: «Die SVP nutzt die Instrumente der direkten Demokratie aus rein taktischen Gründen für ihre Ziele», betont Antoine Chollet. «Die SVP wird die direkte Demokratie aber nicht verteidigen, wenn sie ihren Partei-Interessen läuft. Leider wird als Resultat dieser Instrumentalisierung jeder, der die direkte Demokratie verteidigt, dem konservativen Spektrum zugeteilt – wenn nicht sogar als fremdenfeindlich betrachtet. »
In der Schweiz wurde die direkte Demokratie instrumentalisiert, um MuslimInnen daran zu hindern, Minarette zu bauen. Damit wurden ihre Religionsfreiheit und die Nicht- Diskriminierungsrechte verletzt. Mit direkter Demokratie soll nun auch den Sprach-Minoritäten der Zugang zum öffentlichen Rundfunk verwehrt werden, was Ashfaq Khalfan zutiefst beunruhigt, denn: «Eine Demokratie muss die Menschenrechte garantieren. Ansonsten wird sie zum Instrument für die Tyrannei der organisierten Mehrheit.»