© Petr Josek / Reuters
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MAGAZIN AMNESTY Brennpunkt Zurechtgeschnitten

Von Tobias Kuhnert, Queeramnesty. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2018.
Ist es ein Bub oder ein Mädchen? Die Frage nach dem Geschlecht eines Babys wird manchmal vorschnell beantwortet. Jedes Jahr landen Dutzende intergeschlechtliche Kinder auf dem OP-Tisch – mit dramatischen Folgen.

Jedes Jahr werden in der Schweiz 40 bis 100 Kinder geboren, deren Geschlechtsmerkmale – Genitalien, Keimdrüsen, Hormone oder Chromosomen – nicht den geltenden, binären Normen für «männlich» und «weiblich» entsprechen. Man spricht von Intergeschlechtlichkeit oder Variationen der Geschlechtsmerkmale. Obwohl keine medizinische Notwendigkeit besteht, werden diese intergeschlechtlichen Kinder bis heute mit gravierenden chirurgischen Eingriffen sowie hormonellen Behandlungen auf ein Geschlecht festgelegt – oftmals bereits im Säuglingsalter.

Diese Eingriffe sind unumkehrbar und können langfristige körperliche und psychische Folgen haben. Die betroffenen Kinder oder Jugendlichen werden nicht gefragt und können somit nicht selber entscheiden, die Erziehungsberechtigten sind meist gar nicht oder zu schlecht informiert, um eine fundierte Entscheidung zu treffen.

Dabei handelt es sich um schwere Menschenrechtsverstösse: Die medizinischen Eingriffe verstossen gegen das Recht des Kindes auf Gesundheit sowie gegen sein Recht auf Anhörung bei allen Angelegenheiten, die es betreffen. Mit der Verletzung des Rechts auf körperliche und geistige Unversehrtheit wird gleichzeitig auch das Recht auf Privatsphäre und Selbstbestimmung verletzt. Das ist ebenso der Fall, wenn das Gesundheitspersonal keine ausreichenden Informationen bereitstellt, um Erziehungsberechtigten eine auf Fakten basierende Entscheidung über die medizinischen Eingriffe zu ermöglichen.

Ein erster Schritt wäre, neben «Mann» und «Frau» eine dritte offizielle Geschlechtskategorie zu schaffen – aber damit ist es für intergeschlechtliche Menschen nicht getan: Invasive, irreversible chirurgische und hormonelle Eingriffe an Kindern mit Variationen der Geschlechtsmerkmale müssen verboten werden, sofern es sich nicht um Notfallmassnahmen handelt.

Erst wenn die Betroffenen in der Lage sind, an der Entscheidungsfindung mitzuwirken und ihre informierte Einwilligung zu geben, darf ein Eingriff auf Wunsch des intergeschlechtlichen Menschen durchgeführt werden. Folglich muss es Personen, die das ihnen zugewiesene Geschlecht anpassen möchten, ermöglicht werden, dies durch ein einfaches, transparentes und bedingungslos zugängliches Verfahren zu tun. Zudem müssen Erwachsene, die einer schädlichen und unnötigen medizinischen Behandlung unterzogen wurden, entschädigt werden. Schliesslich ist eine Aufarbeitung der jahrzehntelangen Menschenrechtsverstösse in diesem Bereich unter Einbezug der Betroffenen nötig. Nicht zuletzt muss ein Anti-Diskriminierungsgesetz ausgearbeitet werden, das «Geschlechtsmerkmal» explizit enthält.