AMNESTY: Wie viele Flüchtlinge gibt es aufgrund des Klimawandels?
Étienne Piguet: Wir können «Klimaflüchtlinge» nicht genau bestimmen und zählen, da Migration mehrere Gründe hat. Wenn zum Beispiel jemand wegen Dürre fliehen muss, liegt das häufig auch daran, dass auf politischer Ebene nicht genügend Massnahmen getroffen wurden, um Hungersnöte zu vermeiden. Man kann jedoch davon ausgehen, dass Umweltschäden direkt oder indirekt zur Flucht von Dutzenden Millionen Menschen auf der ganzen Welt beitragen und dass sich das Problem mit dem Klimawandel verschärft: steigende Meeresspiegel, heftigere Wirbelstürme, Dürren, etc.
Sind einige Teile der Welt stärker betroffen als andere?
Migrationsbewegungen aufgrund von Umwelteinflüssen finden hauptsächlich innerhalb der Staaten und über kurze Distanzen statt. Bei Wirbelstürmen suchen die Menschen beispielsweise in der unmittelbaren Umgebung Zuflucht, bevor sie versuchen, ihre Dörfer wieder aufzubauen. Nur selten überschreiten sie eine Grenze. Am stärksten betroffen vom Klimawandel sind leider wirtschaftlich benachteiligte Regionen und Länder: Südostasien, Westafrika, Ägypten, Bangladesch etc.
Unterschätzen die Staaten die Bedeutung von Klimaflucht?
Die reichen Länder überschätzen die Gefahr, dass Menschen wegen Umweltschäden zu ihnen fliehen. Das verstärkt den Reflex, die Grenzen zu schliessen. Andererseits unterschätzen wir sicherlich den Bedarf an humanitärer Hilfe, den Umwelt vertriebene in Zukunft haben werden, wenn wir die globale Erwärmung nicht in den Griff bekommen.
Warum werden Klimamigranten nicht in die internationale Flüchtlingspolitik einbezogen?
Die juristische Definition von Flüchtlingen stammt aus dem Jahr 1951, Umweltursachen werden nicht als Fluchtgrund genannt. Seither wollte kein Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge diese Definition anrühren, weil die Angst besteht, dass dann der Schutz für «politische» Flüchtlinge geschwächt werden könnte.
Wie könnten die derzeitigen Lücken im Völkerrecht geschlossen werden?
Das ist ein sehr heikles Thema. Die Gewährung von Rechten an eine so grosse Gruppe von Menschen – wie sie von Menschenrechtlern in gutem Glauben gefordert wird – könnte für Migranten sogar nachteilig wirken. Die Staaten würden wohl die Abschottungsmassnahmen verstärken, um den Zugang zu diesen Rechten einzuschränken. Ein Migrant kann erst im Aufnahmestaat Schutz beanspruchen.
Die Uno schlägt Massnahmen auf regionaler Ebene vor. Eine gute Lösung?
Da die meisten dieser Fluchtbewegungen innerhalb von Staaten stattfinden, ist humanitäre Hilfe die vielversprechendste Form der Solidarität. Dies ist Teil der gesamten Debatte über die Verantwortung der reichen Länder und mögliche Ausgleichszahlungen. Ein globaler Fonds zur Unterstützung von Migranten, die aufgrund von Umweltschäden fliehen mussten, könnte eine zukunftsträchtige Lösung sein.