«Wenn Sie hier rauskommen, dann nur verrückt oder tot.» Diese Worte richtete Adolfo Kushidonshi, Direktor des Gefängnisses Coronda in der Provinz Santa Fe, 1978 beiläufig an den Häftling Sergio Ferrari. Er verkündete damit unverblümt seinen Willen zur Vernichtung der Gefangenen, die ihm die damals in Argentinien herrschende Militärjunta unterstellte. 40 Jahre später werden Kushidonshi und sein Komplize Juan Ángel Domínguez zu 22 beziehungsweise 17 Jahren Gefängnis verurteilt. Das am 11. Mai 2018 gefällte Urteil ist ein historischer Meilenstein. Zunächst für die ehemaligen Gefangenen, für die Gerechtigkeit und die Erinnerung, aber auch für Amnesty International.
Die von Amnesty übersetzten und verbreiteten Aussagen eines ehemaligen Gefangenen, der Ende 1978 in die Schweiz geflohen war, spielten in diesem Prozess eine Schlüsselrolle. «Es war ein wichtiges Beweisstück, weil ich es damals sofort nach meiner Ankunft in der Schweiz niedergeschrieben hatte. Dank dem Amnesty-Archiv konnten meine Aussagen als tatsächlich aus dieser Zeit stammend beglaubigt werden», erzählt Sergio Ferrari. «Als ich dem Gefängnis entkommen war, wurde die öffentliche Bekanntmachung der Zustände für mich nicht nur zur politischen, sondern auch zur persönlichen Notwendigkeit. Ich fühlte mich bevorzugt gegenüber Hunderten von Freunden, Brüdern, die ich hinter Gittern zurückgelassen hatte. Der Bericht war für mich auch ein Mittel, mich bei den internationalen Organisationen wie Amnesty für ihre Unterstützung zu bedanken.»
Vom Gefängnis ins Flugzeug
Sergio Ferrari ist einer der wohl 1153 Regimekritiker, die Ende der 1970er-Jahre im Gefängnis Coronda gefangen gehalten wurden; er arbeitet inzwischen als Journalist, unter anderem bei der Westschweizer Tageszeitung «Le Courrier», und engagiert sich in globalisierungskritischen und gewerkschaftlichen Organisationen. Im Alter von 22 Jahren war er in Argentinien mit dem Abschluss seines Geschichts- und Anthropologiestudiums beschäftigt und in der peronistischen Jugendorganisation aktiv, als er an vorderster Front gegen die Zugangs- beschränkungen zur Universität auf die Barrikaden ging. Zehn Tage vor dem Staatsstreich vom 24. März 1976 wurden er und sein Bruder Claudio festgenommen. Danach folgten 33 Monate Haft, ohne Anklage und ohne Urteil. «Dies war bei einem Grossteil der 10 000 politischen Gefangenen der Fall», erläutert Sergio Ferrari. «Man bezeichnete uns mit dem Kürzel PEN, das für ‹zur Verfügung der nationalen Exekutive› stand. Diese Klausel stellte dich unter die Verfügungsgewalt des Diktators, der dich solange einbuchten konnte, wie er wollte, ohne jedes Verfahren.»
Ihre Freiheit verdankten die Ferrari- Brüder der internationalen Solidarität, den Verbindungen ihres Vaters, eines Pfarrers, zu dem in Genf beheimateten Ökumenischen Rat der Kirchen sowie einer Eigentümlichkeit der damaligen argentinischen Verfassung, dem «Optionsrecht », wonach man anstelle der Inhaftierung des Landes verwiesen werden konnte. Sergio Ferrari erinnert sich: «Ein fremdes Land musste dir ein Visum ausstellen. In den Augen der Militärjunta war man damit weiterhin ein Gefangener und man konnte nicht mehr legal zurückkehren. Es waren allerdings nicht viele, die auf diesem Weg davonkamen, aus Coronda waren es nur etwa ein Dutzend. In unserem Fall hatte der internationale Druck bestimmt grosses Gewicht.»
Wendepunkt für Amnesty
Als die beiden in die Schweiz kamen, nahm sich Amnesty International ihrer an. «Amnesty war auf allen Ebenen zugunsten der ‹PEN-Inhaftierten› aktiv», erinnert sich Marta Fotsch, die damals Vizepräsidentin der Schweizer Sektion und Koordinatorin für die Länder Südamerikas war. Und Sergio Ferrari doppelt nach: «Amnesty hat enorm viel für uns getan. Marta Fotsch ist eine Schlüsselfigur, nicht nur für mich, sondern für die argentinischen Flüchtlinge überhaupt. Sie hat uns ihr Haus geöffnet und uns über alle institutionellen Beziehungen hinaus begleitet.»
Auch für Marta Fotsch war die Begegnung mit den Ferrari-Brüdern ein Meilenstein: «Ihre Ankunft in der Schweiz hat neue Türen geöffnet, dank denen sich Amnesty noch wirkungsvoller für die inhaftierten Argentinier einsetzen konnte.
Wir haben zur Einreise von etwa fünfzig von ihnen, deren Leben bedroht war, in die Schweiz beitragen können.» Ein alles andere als selbstverständliches Ergebnis. Die engagierte Frau verhandelte dafür persönlich direkt mit dem damals für das Justiz- und Polizeidepartement zuständigen Bundesrat. Aber die Auswirkungen waren nachhaltig: Aus die-sem Engagement entstand der «Hilfsfonds», der später zum «Human Rights Relief» wurde, dem Amnesty-Einsatzprogramm für Notfälle. «Für Amnesty und die NGOs überhaupt war die Idee Neuland, Leute aus einem Land zu holen, in dem sie gefährdet sind», unterstreicht Marta Fotsch. Schweigen gebrochen Richtungsweisend ist auch die Verurteilung der beiden Gefängniskommandanten von Coronda. Dabei sind Verfahren gegen die Verantwortlichen der Diktatur seit den 2000er-Jahren in Argentinien keine Seltenheit mehr. Damals wurden die «Gehorsamkeitspflicht- und Schlussstrichgesetze » abgeschafft: Diese Gesetze hatte man in den 1980er-Jahren erlassen, um einen Mantel des Schweigens über die Verbrechen zu legen, die unter der Diktatur begangen worden waren. Zum ersten Mal sitzen nicht mehr nur Hochdekorierte oder für Geheimgefängnisse Zuständige auf der Anklagebank, sondern auch Direktoren eines legalen Gefängnisses.
«Es gab auch andere Formen der Brutalität unter der Diktatur, wie im Gefängnis La Plata. Dort teilte man den Gefangenen mit, sie würden entlassen, nur um sie beim Verlassen des Gefängnisses zu meucheln. Oder in den Geheimgefängnissen, in denen über 30 000 Kameraden verschwunden sind», erklärt Sergio Ferrari. «Bezogen auf Coronda brachte der Staatsanwalt das alltägliche Haftregime zur Anklage, das die Vernichtung der als Kriegsfeinde betrachteten politischen Gefangenen beabsichtigte. Dieses stellte eine Form von Folter dar.» Ein Schritt mehr auf dem Weg zur juristischen Aufarbeitung und im Erinnerungsprozess, umso mehr als Coronda das einzige von der Gendarmería Nacional geführte Gefängnis war. «Diese Verurteilung anerkennt auch die Mitverantwortung dieses Korps für die Repression», unterstreicht Sergio Ferrari.
Widerstand trotz allem
Speziell an diesem Prozess ist auch eine der involvierten Parteien, die «Corondaes» – die ehemaligen Insassen haben diesen Übernamen angenommen. Sie haben Der diesjährige Prozess löste eine grosse Anteilnahme aus. sich in einem Verein organisiert und sich als Zivilkläger am Gerichtsverfahren beteiligt. «Angesichts der Schreckensherrschaft hatte sich in Coronda etwas Wunderbares ereignet: eine kollektive, geeinte Reaktion in Form von Widerstand im Alltag», lächelt Sergio Ferrari. «Alles war verboten, deshalb hatten wir ‹el periscopio› erfunden, ein Instrument aus verkohlter Brotkrume, das uns als eine Art kleiner Spiegel diente. Damit erspähten wir unter der Zellentür hindurch den Moment, in dem sich die Wächter entfernten. Und sofort ging ein ganzes Kommunikationssystem los, wir verständigten uns durch das Fenster, das abgeschraubte Waschbecken oder die geleerten Toilettenschüsseln – wir sprachen untereinander nur vom ‹Telefon›. Wir debattierten über Soziologie, Geschichte, Philosophie, erzählten uns ganze Filme …» Eine Solidaritätserfahrung, die nachhaltige Spuren hinterlassen hat.
Gerechtigkeit nach 40 Jahren
AMNESTY: Das am 11. Mai 2018 gefällte Gerichtsurteil betrifft Taten aus den Jahren 1976 bis 1979. Weshalb kam es erst jetzt zum Prozess?
Sergio Ferrari: Ich gehe davon aus, dass die Justiz von oben nach unten funktionierte: Erst kamen die Ranghohen an die Reihe, die Generäle, die «Coronel», die Verantwortlichen der geheimen Haftanstalten usw. Und jetzt kommt man zu den unteren Chargen. Das Recht bekommt immer mehr Raum – dass sich dies in Argentinien abspielt, ist ausserordentlich. Auch wenn die gegenwärtige Regierung nicht mehr den ausdrücklichen Willen zum Weiterverfolgen des Prozesses hat – die Dynamik ist angestossen und in der Gesellschaft verankert.
Was bringt Ihnen als ehemaligem politischem Gefangenen dieses Gerichtsverfahren?
Es geht ums Festhalten der Sachverhalte und die Anerkennung dessen, was wir in Coronda erlebt haben. Aber auch um einen Beitrag dazu, dass sich eine solche Situation nicht wiederholt, ums Anstimmen des «Nie wieder!». Wir wünschen nicht einmal unseren Folterknechten ein Haftregime, wie wir es erlebt haben.
Schlagen Sie nun ein neues Kapitel auf?
Erst dachte ich, ja. Solche Erfahrungen hinterlassen allerdings so tiefe Spuren, dass es einem geistigen Handstand gleichkommt zu behaupten, man könne ein Kapitel einfach schliessen, das Herz und Seele dermassen geprägt hat. Trotz fortbestehendem Hass empfinde ich aber durchaus eine gewisse existenzielle Beruhigung. Wir sind in Argentinien insofern privilegiert, als dass wir die Brutalität der Geschichte einem ordentlichen Gerichtsverfahren unterziehen können. Coronda steht aber auch für extrem starke Verbundenheitsgefühle zu den ehemaligen Mitgefangenen, und dieses Kapitel wird sich nicht einfach so schliessen lassen.