Jeder Staat muss selbst bestimmen, wie er das Verhältnis zwischen internationalem Recht und nationalem Recht ausgestaltet. Die Frage ist komplex und es sind verschiedene Aspekte zu berücksichtigen, so zunächst die Hierarchie zwischen internationalem und nationalem Recht: Welches Recht hat im Konfliktfall Vorrang? Die Schweizer Bundesverfassung sieht vor, dass internationales Recht grundsätzlich über nationalem Recht steht. Dies bedeutet, dass eine nationale Norm gegenüber einer internationalen den Kürzeren zieht, wenn die beiden unvereinbar sind.
Dieses Prinzip geht aus zwei Stellen in der Bundesverfassung hervor. Es ist erstens in Artikel 5 Absatz 4 der Bundesverfassung formuliert: «Bund und Kantone beachten das Völkerrecht.» Weiter sieht Artikel 190 vor, dass das Bundesgericht und die anderen Behörden angehalten sind, das internationale Recht anzuwenden. Diese beiden Verfassungsregeln begründen den Vorrang des internationalen Rechts vor dem nationalen Recht.
Dieser Vorrang gilt allerdings nicht absolut. In ganz bestimmten Fällen lässt sich einem Widerstreit zwischen internationalem und nationalem Recht damit begegnen, dass der nationalen Norm Priorität eingeräumt wird. Dem Prinzip, wonach das internationale Recht von Ausnahmen abgesehen dem nationalen vorgeht, tut dies jedoch keinen Abbruch.
Problematische Vereinbarkeit
Die Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter» zielt darauf ab, diese Rangfolge umzudrehen und die Bundesverfassung über das internationale Recht zu stellen. Die SVP hat diese Initiative lanciert, nachdem durch Volksinitiativen bereits verschiedene Artikel in die Bundesverfassung eingebracht wurden, deren Vereinbarkeit mit internationalem Recht sich dann als problematisch herausstellte.
Die «Fremde Richter»-Initiative zielt darauf ab, dass die Bestimmungen der Bundesverfassung nicht mehr in Übereinstimmung mit internationalem Recht angewendet werden müssen, wenn das internationale Recht und Verfassung einander widersprechen. Bei Annahme der Initiative würde die Bundesverfassung somit zur «obersten Rechtsquelle der Schweizerischen Eidgenossenschaft» erklärt, stünde also über internationalem Recht. Ausserdem würde die in Artikel 190 der Bundesverfassung festgehaltene Verpflichtung der Behörden, internationales Recht anzuwenden, zurückgenommen. Diese Verpflichtung wäre künftig nur noch auf internationale Abkommen beschränkt, die dem fakultativen oder dem obligatorischen Referendum unterstellt waren. Schliesslich würde die Bundesverfassung mit einem neuen Artikel 56a ergänzt. Dieser würde es den Behörden nicht nur untersagen, internationale Verpflichtungen einzugehen, die im Widerspruch zur Bundesverfassung stehen (was bereits heute der Fall ist). Er würde die Behörden darüber hinaus dazu zwingen, bestehende internationale Verpflichtungen anzupassen, wenn sie im Widerspruch zur Bundesverfassung stehen – «nötigenfalls» durch Kündigung der betroffenen Abkommen.
Schadet dem Image der Schweiz
Die «Fremde Richter»-Initiative ist nicht frei von Ungenauigkeiten und Widersprüchen. Obschon die Initiantinnen und Initianten den Vorrang der Bundesverfassung vor internationalem Recht einführen wollen, rüttelt die Initiative nicht an der in der Bundesverfassung festgehaltenen Regel «Bund und Kantone beachten das Völkerrecht.» Unangetastet lassen sie auch die in Artikel 190 festgehaltene Verpflichtung der Behörden, allen voran des Bundesgerichts, internationales Recht anzuwenden, auch wenn sich diese Verpflichtung auf Abkommen beschränken würde, die dem fakultativen oder dem obligatorischen Referendum unterstellt waren. Müssten nun diese Abkommen, die dem Volk vorgelegt worden waren, dennoch angepasst oder gar gekündigt werden? Das ist nur eine der Fragen, die die Initiative aufwirft. Solche Unschärfen führen zu Rechtsunsicherheit.
Auf jeden Fall würde die Annahme der Initiative dem Image der Schweiz als Rechtsstaat und vertrauenswürdiger internationaler Partnerin grossen Schaden zufügen. Immerhin könnten aufgrund der Verfassungsänderung zahlreiche Abkommen jederzeit gebrochen und aufgekündet werden. Welcher Staat wäre dann noch bereit, mit der Schweiz eine Vereinbarung einzugehen, wenn das Risiko bestünde, dass sie später doch wieder davon abweicht?
Zielscheibe EMRK
Die sehr allgemein formulierte «Fremde Richter»-Initiative könnte theoretisch Auswirkungen auf zahlreiche Verpflichtungen der Schweiz haben. Ihre Annahme hätte jedoch insbesondere Folgen für den Schutz der Menschenrechte. In Tat und Wahrheit ist vor allem die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) im Visier der Initiative. Die Konvention spielt beim Schutz der Menschenrechte in der Schweiz eine zentrale Rolle. Im Gegensatz zu anderen wichtigen Übereinkommen der Schweizer Rechtsordnung wurde sie dem Referendum nicht unterstellt, als die Schweiz sie 1974 ratifizierte (wohl aber die später verabschiedeten Zusatzprotokolle). Damals mussten die Bundesbehörden das Übereinkommen gar nicht zur Abstimmung bringen, diese Regel kam erst später.
Würde die «Fremde Richter»-Initiative angenommen, genösse die EMRK also grundsätzlich nicht mehr die «Immunität », die Artikel 190 der Bundesverfassung internationalem Recht allgemein einräumt. Laut Initiativtext hätte bei einem Konflikt zwischen Bundesverfassung und EMRK die Bundesverfassung den Vorrang, was auf eine Verurteilung der Schweiz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit Sitz in Strassburg hinauslaufen könnte. Indem die Eidgenossenschaft ihre Verfassung zur «obersten Rechtsquelle» erklärte, wäre es ihr gar nicht mehr möglich, anders zu handeln. Das Nichtbeachten internationaler Verpflichtungen würde die Schweiz als Rechtsstaat in eine unhaltbare Position manövrieren. Sie müsste der EMRK allenfalls den Rücken kehren, um sich aus der ungemütlichen Lage zu befreien. Dies hätte mit Sicherheit katastrophale Konsequenzen.