Schon der Name der Initiative zeugt vom politischen Instinkt und der klugen Kommunikation ihrer Initiantin, der Schweizerischen Volkspartei (SVP): «Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)». Der Name erfasst in wenigen Worten die dominanten politischen Trends, die in den letzten Jahren weltweit erfolgreich waren und die uns alle vor grosse Herausforderungen stellen. Dieser politische Trend richtet sich gegen alles, was als «fremd» empfunden werden kann, seien es Flüchtlinge oder Migrantinnen, die Globalisierung oder die Europäische Union; er richtet sich gegen «Eliten», gegen Richterinnen, Bürokraten, Bundesbern sowie gegen Top-Manager und Reiche; und er behauptet, für Selbstbestimmung einzustehen. Diese lehnt selbstverständlich niemand ab, doch hier kommt sie daher als nationalistische Heimatliebe und Abschottung gegen aussen. Dazu wird jeweils mit einem behaupteten Schweizer «Volkswillen» argumentiert.
Die Initiantinnen und Initianten surfen nicht nur gekonnt auf dieser Welle, sie haben diese populistische Politik seit den 1990er-Jahren selber geschaffen und sich so zum Vorbild für rechtsnationale Parteien in Europa gemacht. In den letzten Jahren hat sich dieser Trend global behauptet und ist mit Brexit, Trump und dem Erfolg populistischer Parteien in der breiten Öffentlichkeit angekommen.
Verblassende Lehren
Amnesty International konstatiert heute, zunehmend alarmiert, eine globale Menschenrechtskrise: Die Diffamierungen des Völkerrechts werden schamloser, die Angriffe gegen MenschenrechtsverteidigerInnen häufiger, das Versagen Europas in der Flüchtlingskrise offenbar – an weiteren Beispielen fehlt es nicht.
Man muss daran erinnern, dass die Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg ausgerufen wurden als Versprechen, dass sich solcher Krieg, Terror und Völkermord niemals mehr wiederholen darf. Heute, siebzig Jahre später, wird offensichtlich, dass die Lehren, die man damals zog, am Verblassen sind, und dass der angestrebte Konsens der Menschenrechte zunehmend infrage gestellt wird.
Die Lehre, die man in Europa aus den Gräueln des Zweiten Weltkriegs zog, konkretisierte sich im Willen der europäischen Staaten, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zu fördern: Zu diesem Zweck wurde 1949 der Europarat gegründet, der ein Jahr später die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verabschiedet und 1959 den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg gegründet hat.
Die beiden Pfeiler der Nachkriegsordnung – der gemeinsame Markt in der Europäischen Union und die gemeinsamen Rechte im Europarat – haben in Europa siebzig Jahre lang für weitgehende Stabilität, Frieden und Wohlstand gesorgt. Heute wird offensichtlich, dass diese Pfeiler in eine Krise geraten sind beziehungsweise heftig an ihnen gesägt wird.
Angriff aus der Schweiz
Die Schweiz hat jahrzehntelang von der europäischen Nachkriegsordnung profitiert. Jetzt ist es ausgerechnet dieses Land, aus dem ein Angriff auf einen Pfeiler der Nachkriegsordnung, die EMRK und den EGMR, lanciert wird. Die Schweiz ist erst spät dem Europarat – nicht zu verwechseln mit der Europäischen Union (EU) – beigetreten (1963). Sie ratifizierte die EMRK noch später (1974), da dies zuvor wegen des fehlenden Frauenstimmrechts nicht möglich war. Danach hat sie sich schnell zu einer Musterschülerin gemausert. Sie engagiert sich im Europarat, feiert sich als Hüterin der Menschenrechte und verzeichnet eine rekordtiefe Anzahl von Urteilen des EGMR. Nur 1,6 Prozent der beim Strassburger Gericht eingereichten Einzelklagen führten bisher zu einem Urteil gegen die Schweiz. Diese Urteile und die EMRK als Grundrechts-Orientierung brachten der Schweiz wichtige Fortschritte im Bereich der Menschenrechte.
Diese Rechte scheinen der Initiantin der «Fremde Richter»-Initiative ein Dorn im Auge. Die SVP startete ihren Angriff auf den Menschenrechtsschutz, nachdem klargeworden ist, dass die EMRK eine rote Linie setzt bei der Umsetzung von völkerrechtswidrigen Volksinitiativen, die oft von dieser Partei lanciert wurden. In den vergangenen Jahren kollidierten mehrere Initiativen (lebenslange Verwahrung, Ausschaffung krimineller Ausländer, Minarettverbot usw.) mit Rechten, die in der EMRK garantiert sind. Bisher wurde die Schweiz (noch) nicht wegen einer kontroversen Initiative verurteilt. Aber ohne den Schutz der EMRK würde es in der Schweiz einfacher werden, auf Kosten von Minderheiten Politik zu machen.
Nach einer Annahme der «Fremde Richter»-Initiative könnte die SVP sofort die Kündigung der EMRK verlangen, da bereits heute Widersprüche in der Bundesverfassung zur EMRK bestehen. Beispielsweise steht das Verbot, in der Schweiz Minarette zu bauen, im Konflikt mit der Religionsfreiheit, die in der EMRK garantiert wird.
Das Beispiel zeigt, wie gefährlich diese Initiative ist. Während sich andere kontroverse Volksinitiativen meist auf einzelne, oft symbolische Themen beschränkten (wie z. B. ein Burkaverbot), hat die Anti-Menschenrechts-Initiative das Potenzial, unsere Rechtsordnung umzukrempeln und den Menschenrechtsschutz auszuhebeln. Denn die in unserer Verfassung garantierten Grundrechte können durch Volksinitiativen jederzeit geändert oder gar gestrichen werden.
Kurzfristige Politik
Seit siebzig Jahren wurden die Menschenrechte weitergeschrieben, Konventionen und Institutionen zu ihrer Durchsetzung entwickelt. Heute müssen wir feststellen, dass diese Texte nicht in Stein gemeisselt sind. Bedroht werden sie von einer Politik, die zwar keine Lösungen bietet, aber kurzfristig Erfolg verspricht: Gegen Fremde Stimmung machen, gegen Eliten polemisieren und gleichzeitig nach unten treten.
Der Schweizer Angriff auf den Menschenrechtsschutz ist in Europa nicht isoliert. Russland unter Putin setzt Urteile des EGMR nur noch mit Vorbehalt um; Präsident Erdogan hat in der Türkei mit der Ausrufung des Ausnahmezustands die EMRK teilweise ausgesetzt.
Natürlich können die Stimmberechtigten in der Schweiz die EMRK kündigen, wenn sie dies wirklich wollen. Dieses Ziel müsste die Initiantin aber offen deklarieren. Die Abschaffung des Menschenrechtsschutzes darf nicht durch die Hintertüre mit einer Polemik gegen «fremde Richter» erfolgen. Wir alle können nur verlieren in einer Welt, in der Macht vor Recht steht, und in der es keine wirksamen Regeln zum Schutz von Minderheiten und individuellen Freiheiten gibt. Angesichts von verbreitetem Chaos und Rechtsbruch in der Welt: Warum sollten wir da freiwillig auf unsere Rechte und ihren Schutz verzichten? Es ist wahrscheinlich, dass die Stimmberechtigten für gemeinsame Regeln und Stabilität stimmen, und dass das Votum über die Anti-Menschenrechts- Initiative zu einem Statement für die Menschenrechte wird, das weit über die Schweiz hinaus von Bedeutung sein wird.