Die Kinder laufen unbefangen zwischen den Wellblechhütten herum, sie haben sich in dem Flüchtlingslager in der somalischen Hauptstadt Mogadischu halbwegs eingewöhnt. Isha Abdule Isaaq dagegen hat sich mit ihrem Leben als Flüchtling noch nicht abgefunden, obwohl sie mit ihrer Familie schon seit vier Wochen hier ist. «Ich bin von zu Hause geflohen, weil mein Mann getötet wurde », erzählt die 56-Jährige. Danach habe sie nicht gewusst, wie sie ihre Familie ernähren sollte. Ihr Mann starb in ihrem Heimatdorf Bariire, etwa 60 Kilometer von Mogadischu entfernt.
«Dort fingen am frühen Morgen Kämpfe an», erinnert sich Isaaq. Sie hätten Schüsse gehört und die Soldaten im Dorf gesehen, die gegen Mitglieder der islamistischen al-Shabaab- Miliz kämpften. «Ein Querschläger traf meinen Mann in den Kopf. Er war sofort tot.» Die Soldaten hätten Gesichtsmasken getragen, aber ihre Hände seien nicht bedeckt gewesen. «So konnte ich sehen, dass es weisse und schwarze Soldaten waren.» Die Weissen waren vermutlich US-Amerikaner, denn die USA sind derzeit die einzige westliche Nation, die in Somalia Kampftruppen hat. Das US-Militär hat im November die Präsenz von 500 Soldaten bestätigt. Sie arbeiten mit der somalischen Armee zusammen, die schwarzen Soldaten waren deshalb wahrscheinlich Somalier. Bariire gilt als Hochburg der al-Shabaab-Miliz, die zum Terrornetzwerk al-Qaida gehört.
Die Miliz kämpft gegen die somalische Regierung und für die Errichtung eines islamischen Staates. Die Terrorgruppe verübt regelmässig schwere Anschläge auf Zivilpersonen und Einrichtungen der Regierung. Daran hat auch die Präsenz einer 22 000-köpfigen afrikanischen Eingreiftruppe namens AMISOM wenig geändert, die seit 2007 im Land ist. Aktiv in die Kämpfe involviert sind auch die USA. Das US-Militär führt in Somalia schon seit einigen Jahren einen regelrechten Drohnenkrieg gegen die islamistische Miliz, als Teil ihres internationalen Krieges gegen den Terror. Die somalische Armee sei am Kampf gegen die Miliz beteiligt und werde vor jeder Aktion des US-Militärs informiert, sagt Abdulaziz Ali Ibrahim, der Sprecher des somalischen Innenministeriums. Der Anti-Terrorkrieg aus der Luft werde am Boden von somalischen Soldaten unterstützt.
Blutige Vergeltung
Das gilt auch für eine frühere Militäraktion in Bariire, die Ende August letzten Jahres stattfand. Damals stürmten somalische Soldaten und eine Handvoll US-amerikanische «Special Operators» ein Gehöft und töteten zehn Menschen. Unter den Opfern waren drei Jungen im Alter zwischen acht und zehn Jahren. Die somalische Regierung bestritt zunächst, dass es zivile Opfer gegeben habe, musste sich aber später korrigieren. Angehörige brachten deren Leichen aus Protest nach Mogadischu. Auch die US-Kommandozentrale für Afrika, die in Stuttgart ansässige Africom, bestätigte später den gemeinsamen Angriff von US-amerikanischen und somalischen Soldaten. Die Clanältesten von Bariire schworen Vergeltung für die Toten.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die offensichtliche Nähe zwischen der al-Shabaab- Miliz und den Ältesten der Clans. Häufig nutzen die IslamistInnen andere Konflikte aus, um Menschen für ihre Zwecke zu mobilisieren. Die Clanältesten haben ihre Drohung vermutlich wahr gemacht und sich für ihren Vergeltungsschlag mit der al-Shabaab-Miliz zusammengetan. Jedenfalls ergaben somalische Ermittlungen mehrere Hinweise darauf, dass der bislang verheerendste Anschlag in Somalia ein Racheakt war für den USMilitäreinsatz und die zivilen Opfer von Bariire. Bei der Explosion einer LKWBombe im Zentrum von Mogadischu wurden am 14. Oktober 2017 weit über 500 Menschen getötet, hunderte weitere verletzt. Nach Erkenntnissen der somalischen Sicherheitskräfte stammte der Fahrer des sprengstoffgeladenen LKW aus Bariire. Es gibt weitere Zusammenhänge, die nahelegen, dass der verheerende Anschlag als Vergeltung gedacht war.
Die somalische Regierung ist politisch und militärisch immer noch schwach, sie kann den IslamistInnen wenig entgegensetzen. Im Kampf gegen die al-Shabaab- Miliz ist sie höchstens der regionale Juniorpartner der US-Administration unter Präsident Donald Trump. Dieser übertrug der CIA schon im März 2017 deutlich mehr Befugnisse, Drohnenangriffe auszuüben, als sie das bisher hatte, wie der Fernsehkanal des «Wall Street Journal » berichtete. US-amerikanischen Medien zufolge lockerte Trump zudem die Regeln für den Einsatz von Kampfdrohnen ausserhalb konventioneller Schlachtfelder. Nun dürfen auch mutmassliche IslamistInnen mit Drohnen getötet werden: Es reicht also, schon nur der Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe verdächtig zu werden. Man muss nicht mehr als Führungsfigur gelten oder als «Person mit speziellen Fähigkeiten». Menschenrechtsgruppen, darunter Amnesty International und Human Rights Watch, kritisierten im März, dass die Trump-Administration diese neuen Regeln nicht öffentlich macht.
Drastischer Zuwachs
Sicher ist: US-amerikanische Drohnen töten in Somalia immer häufiger. Nach eigenen Angaben hat das US-amerikanische Militär allein 2017 über 30 Drohnenangriffe durchgeführt, mehr als doppelt so viele wie 2016. Diese Zahl sei noch deutlich untertrieben, meint die britische Tageszeitung «The Guardian». Die Redaktion wertete alle öffentlich zugänglichen Daten aus und zählte 34 Drohnenangriffe allein in der zweiten Hälfte 2017. Ein drastischer Zuwachs: In nur sechs Monaten gab es doppelt so viele Angriffe wie im gesamten Vorjahr. Über die Zahl der Opfer gibt es keine bestätigten Angaben. Die Website securitydata.newamerica.net wertet aber die öffentlichen Quellen aus. Demnach gab es im vergangenen Jahr 18 zivile Opfer, ausserdem starben 238 al-Shabaab- Mitglieder. Ob unter den vermeintlichen TerroristInnen aber nicht doch Zivilpersonen waren, überprüft vor Ort niemand. Hinzu kommen die Opfer von Militäraktionen mit Bodentruppen, wie in Bariire.
Der US-amerikanische «Anti-Terrorkrieg» ist in Somalia umstritten, auch erklärte GegnerInnen der islamistischen al-Shabaab-Miliz lehnen ihn ab. Nicht zuletzt, weil sie die Zahl der zivilen Opfer der Drohnenangriffe für zu hoch halten. Eine Studie des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen UNDP untermauert die Bedenken der Kritikerinnen und Kritiker. Das UNDP hat 2017 untersucht, warum sich Menschen radikalisieren und Mitglied islamistischer Terrorgruppen werden. Gut 70 Prozent der Interviewten schlossen sich bewaffneten ExtremistInnen an, nachdem sie von der Regierung oder der Armee ihres Landes eigenen Angaben nach massives Unrecht erfahren hatten. Beispielsweise weil ein Angehöriger oder ein Freund getötet oder verhaftet worden war. Für Somalia und den dortigen «Anti-Terrorkrieg» lässt das nichts Gutes hoffen.
Schutzgeld erpresst
Der Bericht eines Aussteigers macht ausserdem deutlich, wie viel Macht die Terrorgruppe in der Gesellschaft ausübt. Mit rein militärischen Mitteln ist dem nicht zu begegnen. Der ehemalige Emir trägt bei dem Treffen eine gelbe Häkelkappe, ein altes Hemd und eine alte Hose. Sein rundes Gesicht wirkt offen und freundlich, sein Auftreten ist grossväterlich. So wenig er heute noch wie ein radikaler Islamist wirkt, so gross war sein Einfluss, als er noch dabei war: Fast sechs Jahre lang war er Finanzdirektor der al-Shabaab-Miliz in seiner Heimatregion Lower Shebelle. «Die al-Shabaab-Miliz sammelt Steuern von den Geschäftsleuten», erklärt der ehemalige Emir. «Am meisten Geld kommt natürlich aus Mogadischu, die Miliz fordert von allen grossen Unternehmen Geld.» Die Höhe der Forderungen hänge von der Grösse der Unternehmen ab. Um deren Wirtschaftskraft einschätzen zu können, habe die Miliz in jedem Unternehmen ihre Informanten. «Wer nicht zahlen wollte, wurde bedroht.» Die Miliz habe dann einen Selbstmordattentäter geschickt oder einen anderen Anschlag verübt. «Wer sich weigerte, bekam also die Folgen zu spüren. Weil das jeder wusste, zahlten alle. Das sei bis heute so. Glaubt man ihm, haben die regelmässigen Anschläge also nicht nur ideologische Gründe, sondern durchaus auch wirtschaftliche: Es sind Sanktionen gegen diejenigen, die der Terrorgruppe die Zahlung von Schutzgeld, auch Steuern genannt, verweigern.
Aus seinen Schilderungen ergibt sich das Bild einer sehr gut funktionierenden und ziemlich effizienten Organisation – ganz im Unterschied zum somalischen Staat. Und es ist das Bild von einer Gesellschaft, in der immer noch die Angst regiert – auch in der Hauptstadt Mogadischu, obwohl die doch eigentlich von der Regierung kontrolliert wird.
Die al-Shabaab-Miliz ist längst eine Art Mafia-Organisation, die die somalische Gesellschaft durchdrungen hat und ihre Gesetze bestimmt. Ihre wahre Macht fusst auf der Verbindung zwischen SelbstmordattentäterInnen und einem engmaschigen Netz von InformantInnen.