Tief versunken in ihrer Couch, versucht sie, ihren herumspringenden Hund zu beruhigen. Dabei zündet sie sich eine Zigarette nach der anderen an und fährt sich immer wieder mit der Hand durch ihr grauweisses, wuscheliges Haar.
Leila Soueif ist es gewohnt, vieles gleichzeitig zu tun: Die 62-Jährige ist eine der Vorreiterinnen der ägyptischen Menschenrechtsbewegung. Sie hat sich mit vielen Herrschern des Landes angelegt und sich dabei den Mund nie verbieten lassen. Auch nicht, als in den 80er-Jahren ihr Mann und nach dem arabischen Frühling zwei ihrer drei Kinder im Gefängnis sassen – alle wegen Regimekritik. Ihr ältester Sohn Alaa Abdel Fattah ist immer noch in Haft. Gefängnisbesuche, Gerichtsverhandlungen und Behördengänge gehören zum Alltag von Leila Soueif. «Ich kenne es nicht anders», sagt sie.
«Manchmal denke ich: Es kann doch nicht sein, dass wir heute noch immer für oder gegen den gleichen Mist protestieren wie damals.» Leila Soueif
Die Situation ist noch schlimmer
Fast acht Jahre sind seit der Revolution vergangen, die Präsident Hosni Mubarak im Februar 2011 aus dem Amt fegte. Und auch danach kam das Land nicht zur Ruhe: Erst ergriff ein Hoher Rat greiser Militärs die Macht, dann brachten die ersten freien Wahlen mit Mohammed Mursi einen Muslimbruder in den Präsidentenpalast, der nach nur einem Jahr vom Militär gestürzt wurde. Seit 2014 nun regiert der damalige Armeechef Abdel Fattah al-Sisi mit eiserner Hand – Zehntausende politische Gefangene sind das Ergebnis.
Doch nicht nur Aktivisten und Aktivistinnen zahlen seit der Niederschlagung der Revolution einen hohen Preis. Es herrscht weiterhin grosser Unmut bei vielen der fast 100 Millionen ÄgypterInnen. Denn wirtschaftlich und politisch ist die Lage miserabel, die Forderungen nach Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit sind nicht erfüllt worden. «Im Gegenteil, die Situation ist heute sogar noch schlechter als vor der Revolution, vor allem, was die Menschenrechte betrifft», sagt Soueif.
«Manchmal denke ich: Es kann doch nicht sein, dass wir heute noch immer für oder gegen den gleichen Mist protestieren wie damals», sagt sie lachend.
Kampf um mehr Freiheit
Leila Soueif war 16 Jahre alt, als sie 1972 an ihrer ersten Demonstration teilnahm. Es ging um die von Israel besetzte Sinai-Halbinsel – und vor allem um mehr Freiheit. Doch der Protest dauerte nicht lange: Als ihre Eltern von der Aktion erfuhren, schickten sie ihre grosse Schwester mit deren Mann los – die beiden eskortierten Leila nach Hause. Die Eltern, beide privilegierte UniversitätsprofessorInnen, hatten für das politische Interesse ihrer Tochter kein Verständnis – schliesslich war es schon damals gefährlich, gesellschaftlich aktiv zu sein.
Ausserdem fürchteten sie die Schergen des zwischen 1954 und 1970 regierenden Präsidenten Gamal Abdel Nasser: Folter, Repression und Gewalt prägten das Land am Nil. «Meine Eltern entschieden daher, nur Akademiker zu sein und nichts mit Politik zu tun haben zu wollen. Sie erwarteten das auch von mir. Daher stritten wir oft. Ich war wirklich wütend auf sie», sagt Leila Soueif.
Als sie Mitte der 70er-Jahre an der Kairoer Universität Mathematik studierte, lernte sie ihren Ehemann kennen. Ahmed Seif el-Islam war damals Anführer einer kommunistischen Untergrundzelle. Sie heirateten und lehnten sich gemeinsam gegen soziale Ungerechtigkeit, Korruption und Menschenrechtsverletzungen unter Präsident Anwar al-Sadat auf.
Nassers Nachfolger genoss in der westlichen Welt hohes Ansehen. In Ägypten aber brodelte es. «Es herrschte Korruption, die wirtschaftliche Lage war desaströs, Sadats Aussenpolitik umstritten», sagt Leila Soueif. Zum ersten Mal hörte sie damals auch, «dass in den Gefängnissen gefoltert wurde und Menschen dabei starben». Sie schloss sich deshalb der gerade entstandenen Menschenrechtsbewegung an. «Ich war begeistert, dass sich Menschen auf die Seite der Bürger stellten, egal welche politische Haltung sie hatten.»
1981 wurde Anwar al-Sadat von Dschihadisten wegen des Friedensschlusses mit Israel ermordet; neuer Präsident wurde Hosni Mubarak. Unter ihm sass Leila Soueifs Mann fünf Jahre lang im Gefängnis, wurde geschlagen und gefoltert. Sie machte das öffentlich – und legte sich bei ihren Kampagnen mit dem Regime an. «Damals sprach noch keiner über Folter, nur wenige wussten davon. Es war ein Skandal», sagt sie.
Noch im Gefängnis studierte ihr Mann Jura. Nach seiner Freilassung Ende der 80er-Jahre arbeitete er als Anwalt. Gemeinsam widmeten sie sich dem Kampf gegen Folter, Repression, Polizeigewalt und Justizwillkür. Sie unterstützen die Demokratiebewegungen, die dem Aufstand gegen Präsident Mubarak den Weg ebneten. Dem Aufstand, in dem ihre drei Kinder eine grosse Rolle spielen sollten.
Die nächste Generation
«Eigentlich wollten wir ja nie in die Fussstapfen unserer Eltern treten», erzählt ihre Tochter Mona Seif. «Sie fanden uns langweilig», sagt ihre Mutter und lacht laut. Anfangs seien ihre Kinder Wege gegangen, die mit Politik nichts zu tun hatten: Sie studierten Biologie, Softwareentwicklung und Sprachen.
Heute sind sie aus Ägyptens AktivistInnenszene nicht mehr wegzudenken. Mona Seif ist Bloggerin. Seit über zehn Jahren setzt sie sich für Menschenrechte im Land ein. Obwohl schon viele Leute wegen kritischer Kommentare inhaftiert wurden, fordert die 32-Jährige in ihren Einträgen das Regime weiter heraus und stellt es öffentlich an den Pranger. Sie setzt sich für ZivilistInnen ein, die von Militärgerichten zu langen Haftstrafen verurteilt wurden, und klärt ihre Leserinnen und Leser über ihre Rechte und die politischen Verhältnisse auf. Dass ihr älterer Bruder Alaa Abdel Fattah nun seit fünf Jahren im Gefängnis sitzt, macht die Situation nicht einfacher. «Vor nicht allzu langer Zeit wurde er noch als Held gefeiert. Jetzt sitzt er für wer weiss wie lange», sagt sie.
Ihr Bruder Alaa gehört zu den prominentesten Gesichtern des Aufstands von 2011. Damals beteiligte sich der 36-jährige Aktivist und Blogger an den Protesten, die zu Mubaraks Sturz führten. Auch danach war er politisch aktiv – was den Machthabern gar nicht gefiel. Im Frühjahr 2014 wurde der Softwareentwickler wegen illegalen Protests und Angriffen auf die Polizei zu fünf Jahren Haft verurteilt.
Seitdem lässt seine Familie alle zwei Wochen alles stehen und liegen, um ihn im Gefängnis zu besuchen. Früh morgens fahren Mona, ihre Mutter, die Ehefrau ihres Bruders und sein kleiner Sohn in das knapp eine Stunde entfernte Tora-Gefängnis in Helwan, in dem sich Alaa eine Zelle mit 60 anderen Häftlingen teilt. Haben sie die erste Abgrenzung passiert, werden sie mehrere Stunden lang gründlich durchsucht. «Als wäre er ein gefährlicher Krimineller. Dabei ist er nur ein Blogger, der seine Meinung schreibt», sagt seine Schwester.
Werden sie endlich durchgewunken, dürfen sie genau eine Stunde mit Alaa Abdel Fattah verbringen – keine Minute länger. In dieser Stunde dürfen sie ihn an ihrem Leben teilhaben lassen. Wenn sein Sohn Geburtstag hat, hängen sie Ballons auf, essen Kuchen. Auch ihre Hochzeit feierte Mona Seif vor einem Jahr im Gefängnis. Ihr Bruder organisierte Süssigkeiten von den anderen Gefangenen. Mona war wichtig, dass er dabei war. «Er verpasste schon den Tod seines Vaters und die Geburt seines Sohnes. Bei meiner Hochzeit sollte er dabei sein», sagt sie. «Wer weiss, wie lange er noch im Gefängnis bleibt. Es könnten plötzlich neue Verfahren auftauchen, von denen wir nichts wissen.» Sie befürchtet, dass ihr Bruder nicht freikommen werde, solange al-Sisi an der Macht ist. «Viele andere, die wegen illegalen Demonstrierens im Gefängnis sassen, erhielten eine Amnestie», sagt Mona Seif. «Das Regime fürchtet ihn, eine einzelne Person.»
Neue Gefängnisse
Doch es sind nicht nur Einzelpersonen, die der Staat im Visier hat: Der durch den Aufstand aufgelöste Sicherheitsapparat sitzt wieder fest im Sattel und jagt Demokratiebewegungen, NGOs und Menschenrechtsgruppen im ganzen Land. Hetzkampagnen in sozialen Netzwerken und staatlichen Medien sollen die Kritikerinnen und Oppositionellen einschüchtern, am besten mundtot machen.
Wer sich öffentlich gegen die Machthabenden äussert, muss mit Repressalien rechnen. In den vergangenen Jahren wurden Hunderte Jugendliche von den ägyptischen Sicherheitsbehörden verschleppt, geschlagen oder gefoltert – viele starben dabei. Heute sitzen rund 60 000 politische Gefangene in Ägypten in Haft – so viele wie nie zuvor.
Unter ihnen befinden sich längst nicht nur Muslimbrüder und deren AnhängerInnen, sondern auch immer mehr AktivistInnen der Revolution, Studenten, Kritikerinnen, Liberale, Linke, Oppositionspolitiker und Journalistinnen. Viele von ihnen werden nicht einmal vor Gericht gestellt, sondern bleiben jahrelang in Untersuchungshaft – ohne Anklage. In den vergangenen sieben Jahren wurden 19 neue Gefängnisse gebaut, von denen alleine zwei insgesamt 30 000 Gefangene aufnehmen können.
«Unsere Justiz ist schuld», sagt Mona Soueif. «Unter Mubarak hielten sich die Richter wenigstens noch ein wenig an das Gesetz, an die Verfassung. Heute nicht mehr.»
Kinder in Haft, Mann im Spital
Als Leila Soueifs Ehemann im August 2014 im Sterben lag, sass nicht nur Sohn Alaa im Gefängnis, auch ihre jüngste Tochter, Sanaa Seif, war inhaftiert. Die 24-Jährige wurde erst mit Beginn der Revolution 2011 politisch aktiv – mit damals 16 Jahren. «Keiner kannte sie, weil sie zurückhaltend ist, immer im Hintergrund arbeitet», sagt die Mutter. Im Sommer 2014 wurde Sanaa Seif dann festgenommen und wegen illegalen Demonstrierens zu zwei Jahren Haft verurteilt. Beide Kinder Leilas sassen also in Haft, als der Vater wegen einer Herzoperation ins Krankenhaus kam. Nach langen Diskussionen wurde den Häftlingen ein Besuch bei ihrem Vater gestattet. Doch es war schon zu spät, er lag bereits im Koma und starb nur wenige Tage später.
«Ich vererbe dir nur die Gefängniszelle, in der auch ich einst sass.» Ahmed Seif el-Islam, verstorbener Vater der Familie und Menschenrechtsanwalt
Vater Ahmed Seif el-Islam war Ägyptens wichtigster Menschenrechtsanwalt. Nur wenige Monate vor seinem Tod zog er bei einer Presseveranstaltung eine Bilanz der Entwicklungen im Land – und entschuldigte sich bei seinem inhaftierten Sohn Alaa: «Bitte verzeih meiner Generation. Wir träumten davon, euch eine demokratische Gesellschaft zu vererben, die auf die Würde des Menschen achtet. Doch stattdessen vererbe ich dir nur die Gefängniszelle, in der auch ich einst sass. Meine Tochter Mona wurde geboren, als ich im Gefängnis war, dein Sohn Khaled ebenfalls. Wird eure Generation zulassen, dass das weitervererbt wird?»
«Es sieht ganz so aus», erklärt Leila Soueif. Trotzdem macht sie weiter. «Ich kann doch jetzt nicht aufhören», sagt sie. «Es ist noch nicht vorbei.»