Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war bahnbrechend: Niemals zuvor hatten sich so viele Regierungen gemeinsam zu einem derart umfassenden Katalog politischer und sozialer Rechte bekannt. Dennoch wurde die Erklärung im Dezember 1948 von lediglich 48 der 58 Mitgliedsstaaten ohne Gegenstimme verabschiedet. Mehr Mitglieder hatten die Vereinten Nationen damals nicht, standen doch die meisten Länder Afrikas und Asiens noch unter Kolonialherrschaft und gehörten der Organisation deshalb nicht an. Ferner konnte die Erklärung nur verabschiedet werden, weil sie rechtlich unverbindlich war. Alles andere hätten die drei damals mächtigsten Staaten der Welt – die USA, Grossbritannien und die Sowjetunion – nicht zugelassen. Zeitgenössisch betrachtet, war ihre Verabschiedung zudem kein derart symbolisch herausgehobener Gründungsakt, wie es uns heute rückblickend erscheinen mag.
Schon bei der Entstehung des Dokuments zeigte sich somit vieles, was die Entwicklung der Menschenrechte auch in der Folgezeit bestimmte: Immer wieder stand die Frage im Raum, ob sie universell oder nur für bestimmte Weltregionen gültig seien. Ideale zu proklamieren, bedeutete noch nicht, wirksamen Schutz zu gewährleisten. Schliesslich entfaltete sich der Menschenrechtsgedanke nicht in einer linearen Erfolgsgeschichte, sondern in Wechselbewegungen.
Instrument für alle Seiten
Dass die Menschenrechtsidee in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schubweise an politischer Bedeutung gewann, hat viel damit zu tun, dass sie nahezu weltweit aufgegriffen wurde – in denkbar unterschiedlichen Situationen und mit weit auseinanderklaffenden Zielsetzungen.
Dass sie in den Jahren des Zweiten Weltkriegs vielen Politikern als zukunftsträchtig erschien, erklärte sich weniger aus einem moralischen Antrieb. Vielmehr ging es um ein sicherheitspolitisches Kalkül. Einflussreiche amerikanische Internationalisten etwa glaubten, dass radikale Bewegungen wie die nationalsozialistische gar nicht erst in die Lage kämen, eine Diktatur zu errichten und Aggressionskriege zu führen, wenn man alle Staaten der Welt darauf verpflichtete, menschenrechtliche Mindeststandards einzuhalten. Die postkolonialen Staaten des globalen Südens hingegen verbanden später mit den Menschenrechten ein ganz anderes Projekt: Sie setzten darauf, mit ihrer Hilfe Kolonialherrschaft und rassistischer Diskriminierung den Boden zu entziehen.
In westlichen Ländern wiederum gewannen menschenrechtliche Vorstellungen in den 1970er-Jahren vor allem deshalb rasant an Attraktivität, weil sie eine moralische Erneuerung des Politischen schlechthin verhiessen. So könne man das politische Handeln auf das Wesentliche richten: die Rettung von Menschenleben.
Zugleich liessen sich die politischen Lagergrenzen des Kalten Kriegs überschreiten. Und schliesslich konnte man damit den hochfliegenden Visionen gesellschaftlicher Veränderung, die in den 1960er-Jahren in Blüte gestanden hatten, ein greifbares Vorhaben entgegensetzen.
Mittel zum Zweck
Kurz nach Ende des Kalten Kriegs nahm Menschenrechtspolitik dann im humanitären Interventionismus eine weitere neue Gestalt an. So verwiesen im Kosovo-Konflikt am Ende der 1990er-Jahre westliche Regierungen auf Menschenrechtsverletzungen, um ihren Kriegseinsatz zu rechtfertigen. 2003 im Irak schob die Regierung von George W. Bush die Menschenrechtslage als Begründung für die Intervention der Vereinigten Staaten immerhin nach.
An diesen unterschiedlichen politischen Besetzungen wird deutlich, dass sich die Veränderungswirkung der Menschenrechtsidee kaum auf einen einfachen Nenner bringen lässt. Eher kann man konstatieren, dass die Menschenrechte in den internationalen Beziehungen eine neue Konfliktarena geschaffen haben; an unterschiedlichen Interpretationen entzündeten sich scharfe Kontroversen.
Diese Konflikte hatten zuweilen einen abgeleiteten Stellenwert – wenn etwa die USA und die Sowjetunion im Kalten Krieg die Menschenrechtsverletzungen des Gegners denunzierten. Oftmals hatten sie aber auch ein markantes Eigengewicht. So war die weit verbreitete westliche Empörung über Menschenrechtsverletzungen ein wichtiger Grund, warum Militärdiktaturen wie die in Chile und Argentinien in den 1970er- und 1980er-Jahren in den Mittelpunkt transnationaler Kampagnen rückten. Denn noch wenige Jahre zuvor war das Geschehen in dieser Region vielen Bewohnerinnen und Bewohnern anderer Weltgegenden völlig unbedeutend erschienen.
Legitimation für alles Mögliche
Doch nicht Staaten, sondern zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure stellten die alles in allem bestimmende Triebkraft für die Ausstrahlung der Menschenrechtsidee dar. Sie verwandelten sie in eine denkbar signalkräftige Sprache der Emanzipation. Das führte zur Herausbildung einer Vielfalt an Argumenten und Aktionsformen: Dieser bedienten sich nach und nach zahlreiche Menschen, die sich gegen Verfolgung, Unterdrückung und Diskriminierung zur Wehr setzten – oder das, was sie dafür hielten. Denn auch in diesem Punkt erwies sich die Menschenrechtsidee als denkbar offen und umstritten.
So führten einige Anklagen, die nichtstaatliche Gruppen wegen Menschenrechtsverletzungen vorbrachten, dazu, dass sich selbst Diktaturen darum bemühten, die rechtliche Lage in ihrem Land als möglichst günstig darzustellen. Tatsächlich gab es kaum Regierungen, die offen zugegeben hätten, Menschenrechte zu verletzen. Dadurch wurde die Menschenrechtssituation für das internationale Image von Staaten wichtiger – obwohl repressive Regime gerade das nicht beabsichtigt hatten. Bis zu einem gewissen Grad verfingen sie sich gleichsam im Menschenrechtsdiskurs.
Die Menschenrechtssituation wurde für das internationale Image von Staaten wichtiger – obwohl repressive Regime gerade das nicht beabsichtigt hatten. Bis zu einem gewissen Grad verfingen sie sich gleichsam im Menschenrechtsdiskurs.
Allerdings liegt es auch in der Konsequenz dieser Entwicklung, dass autoritäre Staaten später zum Teil sogar dazu übergingen, ihre Gewaltpolitik (menschen)rechtlich zu legitimieren. Die Regierung Wladimir Putins lieferte dafür nur ein Beispiel, als sie 2014 die Annexion der Krim und ihre Destabilisierungspolitik in der Ukraine auf diese Weise begründete.
Somit war auch oftmals nicht klar, ob es für verfolgte Menschen tatsächlich eine spürbare Verbesserung bedeutete, wenn sich Regierungen zu menschenrechtlichen Normen bekannten.
In einer Bilanz zum 70. Jahrestag der Verabschiedung der Menschrechtserklärung gilt es zudem festzuhalten, dass viele Menschenrechtsbewegungen mit ihren Kernanliegen scheiterten: Afroamerikanische Bürgerrechtsgruppen etwa wandten sich bereits in den 1950er-Jahren desillusioniert von den Vereinten Nationen ab, weil ihnen das internationale Menschenrechtssystem gegen die Rassendiskriminierung in den USA nicht helfen konnte. Die osteuropäischen Dissidentenbewegungen, die während der 1970er-Jahre in den kommunistischen Diktaturen neue Artikulationsräume schufen und darin vom Westen vehement unterstützt wurden, waren Anfang der 1980er-Jahre fast überall zerschlagen. Die grossen Kampagnen gegen Chile oder Südafrika führten zeitweise dazu, dass die Regime ihre Repressionspolitik noch verschärften.
Gemischte Bilanz
Die Jahrhundertfrage, ob Menschenrechte die Welt besser gemacht haben, lässt sich daher nicht mit ungetrübter Eindeutigkeit beantworten. Der lagerübergreifende menschenrechtliche Grundkonsens, der sich Ende der 1980er-Jahre zumindest in westlichen Gesellschaften etabliert hatte, ist womöglich schon nicht mehr so gross, wie er einmal war. Und so sehr der Einsatz für Menschenrechte in zahlreichen Ländern ein buchstäblich existenzieller Kampf bleibt, so scheinen sie doch ihre visionäre Kraft im internationalen Raum seit den 1990er-Jahren eingebüsst zu haben.
Der lagerübergreifende menschenrechtliche Grundkonsens, der sich Ende der 1980er-Jahre zumindest in westlichen Gesellschaften etabliert hatte, ist womöglich schon nicht mehr so gross, wie er einmal war.
Dennoch spricht vieles dafür, dass die Politik im Namen der Menschenrechte – allen Versäumnissen, kontraproduktiven Folgen und zynischen Instrumentalisierungen zum Trotz – eine subtile Veränderung zum Besseren bewirkt hat. So hat sich seit den 1970er-Jahren ein Prozess vollzogen, den man sperrig, aber treffend als menschenrechtliche Fundamentalsensibilisierung bezeichnen könnte. In der Politik, in den Medien, in der Zivilgesellschaft werden Repressionen seitdem in einem Masse beobachtet, kommentiert und zur Grundlage politischer Haltungen gemacht, wie es historisch niemals zuvor der Fall war. Somit hat der Einsatz für die Menschenrechte dazu geführt, dass staatliche und zum Teil auch nichtstaatliche Gewalt vielerorts überhaupt zur Kenntnis genommen und weithin als Unrecht verstanden wird – und dass Menschen in Not deshalb geholfen wird. Die Geschichte der Menschenrechte zeigt aber auch, dass dafür immer wieder das Engagement vieler Menschen notwendig ist.