März 1938. Nachdem das Dritte Reich Österreich annektiert hatte, schloss die Schweiz ihre Grenzen für Jüdinnen und Juden. 20 000 Flüchtlinge wurden zurückgewiesen. Paul Grüninger, Polizeihauptmann und Verantwortlicher für die Schweizer Grenzen am Bodensee, widersetzte sich. Er drückte bei falschen Dokumenten beide Augen zu, fälschte gar Visa, um über 3000 Jüdinnen und Juden die Einreise zu ermöglichen.
«Ich sah keine andere Lösung.» Anni Lanz
Im Frühling 1939 wurde er verraten, schliesslich seines Amtes enthoben und zu einer schweren Strafe verurteilt; ausserdem verlor er seinen Rentenanspruch. Bis zu seinem Lebensende betonte er stets, dass er wieder genau gleich handeln würde. Erst 23 Jahre später wurde das Urteil aufgehoben und seine Familie entschädigt. Seit vergangenem Jahr ist eine Strasse im Nordosten von Jerusalem nach ihm benannt.
Eine Baslerin und ein Afghane
Nach Anni Lanz hingegen ist keine Strasse benannt, obschon die zierliche Frau mit den stahlblauen Augen seit über 30 Jahren Menschen auf der Flucht hilft. Sie wurde ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs geboren, weiss aber um die Abweisung von Tausenden Menschen an der Schweizer Grenze. «Wir haben uns damals gesagt, dass wir dieselben Fehler nie wieder machen dürfen. Aber mir scheint, dass wir das heute vergessen haben», erzählt die in Val Terbi lebende Baslerin. Auch sie hat im vergangenen Februar das Gesetz gebrochen. Sie fuhr nach Domodossola, um dem jungen Afghanen Arshad* zu helfen. Die Schweiz hatte ihn unter Anwendung der Dublin-Verordnung nach Italien zurückgeführt. «Er hatte mehrere Suizidversuche hinter sich. Die ärztlichen Berichte empfahlen, ihn aufgrund seiner psychischen Probleme nicht auszuweisen, sondern ihn in der Nähe seiner Schwester in der Schweiz zu lassen. Doch die Behörden haben ihn trotzdem ausgeschafft!», erklärt die Rentnerin mit Wut in der Stimme.
Als Anni Lanz erfuhr, dass kein Asylzentrum in Italien Arshad aufnehmen konnte und dass er bei fast minus 10 Grad draussen schlief, fuhr sie kurzerhand nach Italien. Sie fand Arshad auf einem Bahnhof. Sein Körper war von Frostbeulen übersäht. «Da ich keine andere Lösung sah, habe ich beschlossen, ihn in die Schweiz zurückzubringen. Wir wurden jedoch an der Grenze von Gondo angehalten», erzählt die 72-Jährige. Sie erhielt eine bedingte Busse von 30 Tagessätzen à 50 Franken und sollte 300 Franken Verfahrenskosten wegen «Erleichterung der rechtswidrigen Einreise in die Schweiz» bezahlen, eines Verstosses gegen Artikel 116 des Ausländergesetzes. Anni Lanz legte Rekurs ein. «Ich möchte diese Geschichte veröffentlichen, um zu zeigen, dass die Schweiz die Dublin-Verordnung auf inakzeptable Art anwendet», meint sie. Arshad wurde von Gondo direkt nach Italien zurückgebracht. Anni Lanz kontaktierte Lisa Bosia Mirra, eine Freundin aus dem Tessin, die ihr dabei half, für ihren Schützling ein Asylgesuch zu stellen und in Italien eine Unterkunft zu finden.
An der Grenze gestrandet
Auch Lisa Bosia Mirra hat schon Menschen in Not geholfen, die Schweizer Grenze zu überqueren. Es war im Sommer 2016, als 500 MigrantInnen in Como feststeckten. Die Schweizer Grenzschutzbeamten führten Hunderte Personen zurück, darunter unbegleitete Minderjährige. Lisa Bosia Mirra begann, die zahlreichen Fälle von Ausweisungen zu dokumentieren. Die Tessiner SP-Grossrätin sammelte Zeugenberichte von Gestrandeten, die in Libyen gefoltert worden waren: Schusswunden, Spuren von Strangulation, teils noch frische Verletzungen. «Ich konnte nicht mehr ruhig schlafen und diese Menschen nachts in dieser derart schrecklichen Lage allein lassen. Ich musste ihnen helfen. Punkt!» So versteckte die Aktivistin mehrmals Menschen in ihrem Auto und fuhr über die Grenze. Aber sie wurde von den Behörden überwacht und am 1. September 2016 in San Pietro di Stabio im Südtessin angehalten.
«Ich musste ihnen helfen. Punkt!» Lisa Bosia Mirra
Bosia Mirra wurde wegen «mehrfacher Erleichterung der rechtswidrigen Ein- und Ausreise sowie des rechtswidrigen Aufenthalts» zu einer bedingten Geldstrafe von 8800 Franken sowie einer Busse von 1000 Franken verurteilt. Man wirft ihr vor, bei neun Fahrten insgesamt 24 Eritreer und Syrer, überwiegend unbegleitete Minderjährige, in die Schweiz geschmuggelt zu haben. «Es war mir klar, dass sie mich aufgreifen würden, aber diese Menschen brauchten Hilfe», betont die Tessinerin. Ihre Verurteilung, die ein grosses Medienecho hervorrief, hat tiefgreifende Auswirkungen auf ihr Leben. «Ich erhalte Todesdrohungen. Ich gehe nicht mehr so unbeschwert nach draussen wie zuvor, und wegen meines Strafregistereintrags finde ich keine Arbeit mehr.» Die Politikerin wurde aufgefordert, aus dem Grossen Rat zurückzutreten, was sie ablehnte, da ihre Verurteilung nichts Unehrenhaftes aufweise.
Pfarrer verurteilt
«Ich habe nichts Schlechtes getan», sagt auch Norbert Valley. «Das habe ich der Staatsanwältin des Kantons Neuenburg geschrieben. Egal welches Gesetz herangezogen wird, um mich zu verurteilen, ich fühle mich nicht schuldig», sagt der evangelische Pfarrer. Er wurde im Februar während eines Gottesdiensts von der Polizei abgeholt und erhielt eine bedingte Busse von 10 Tagessätzen à 100 Franken und muss 250 Franken Verfahrenskosten zahlen.
Sein Verbrechen: Er hat einem togolesischen Freund, dessen Asylgesuch abgelehnt worden war, die Schlüssel seiner Kirche in Le Locle ausgeliehen und ihm Essen gegeben. Wusste der Pfarrer, dass er rechtswidrig handelt, wenn er einen jungen Mann beherbergt, den die Behörden ausweise wollen? «Solche Fragen stelle ich mir nicht. Wir sind nicht mit Dossiers, sondern mit Menschen konfrontiert. Man kann nicht mit Kalkül an eine solche Sache herangehen. Im Evangelium steht: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Meine Nächsten definieren sich nicht über die Farbe ihres Ausweises, über ihre Religion oder über ihre Hautfarbe. Über Legalität oder Illegalität gibt es nichts nachzudenken. Ich hatte keine andere Wahl. Ich musste ihm helfen, und wenn ich nochmals von vorn beginnen könnte, würde ich es wieder tun», erklärt Valley. Er ist bereit, bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg zu gehen. Denn er will das Recht zu helfen verteidigen.
«Ich würde es wieder tun.» Norbert Valley
Wie viele Leute werden für solche solidarischen Taten verurteilt, bezahlen protestlos ihre Busse und haben seither einen Eintrag im Strafregister? Die Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen, dass allein im vergangenen Jahr 785 Urteile wegen «Erleichterung der rechtswidrigen Ein- oder Ausreise oder des rechtswidrigen Aufenthalts» gefällt wurden. Es handelt sich dabei um einen Verstoss gegen Art. 116 Abs. 1 des Ausländergesetzes. Empathie oder Gier? In den Statistiken wird nicht ersichtlich, aus welchen Gründen Bürgerinnen und Bürger Flüchtlingen ins Land halfen oder sie beherbergten. Müssen wir künftig den Ausweis jeder Person verlangen, die über unsere Türschwelle tritt, um nicht wegen Erleichterung des rechtswidrigen Aufenthalts in der Schweiz angeklagt zu werden?
Das Gesetz berichtigen
Anni Lanz, Lisa Bosia Mirra und Norbert Valley wurden alle aufgrund eines Verstosses gegen Artikel 116 des Ausländergesetzes verurteilt. Mit dem neuen Ausländergesetz von 2008 verschwand eine Straffreiheitsklausel für Personen, die den rechtswidrigen Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz aus «achtenswerten Beweggründen» erleichtert haben. Das Strafrecht sieht zwar noch immer eine Strafminderung vor, wenn die Beweggründe der Person als «achtenswert» eingestuft werden, aber es erfolgt trotzdem eine Verurteilung. Artikel 116 sieht Strafen von bis zu einem Jahr Gefängnis vor. Auch wenn die meisten Verurteilten Bussen erhalten, müssen sie trotzdem auf die Anklagebank, haben kein reines Strafregister mehr und dafür einen tieferen Kontostand. Die grüne Genfer Nationalrätin Lisa Mazzone möchte das ändern. Sie hat am 28. September eine parlamentarische Initiative eingereicht, um wieder eine Straffreiheitsklausel bei achtenswerten Beweggründen einzuführen.
Mit diesem Gesetzesartikel 116 sollten ursprünglich kriminelle Aktivitäten von Schlepperinnen und Schleppern bekämpft werden, doch heute scheint er viel breiter ausgelegt zu werden. «Der Artikel 116 ist heute so allgemein formuliert, dass er womöglich unterlassene Hilfeleistung fördert. Er kriminalisiert jene, die Menschen auf der Flucht helfen und dabei nach humanitären Prinzipien handeln. Gemäss Völkerrecht müssen die Staaten Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger schützen. Die Solidarität muss gestärkt und nicht bestraft werden», erklärt Muriel Trummer, Juristin bei Amnesty International Schweiz. Dass die Schweiz jegliche Hilfe zur Einreise oder zum Aufenthalt im Land kriminalisiert, macht sie zu einem der strengsten Staaten Europas.
Europäische Repression
Die Solidarität wird nicht nur in der Schweiz bekämpft. Die Medien berichteten in der letzten Zeit über mehrere ähnliche Fälle in Europa. Doch es bleibt ein Hoffnungsschimmer: Am 5. Juli hat der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten des EU-Parlaments eine Resolution verabschiedet, die von den Mitgliedsstaaten verlangt, dass humanitäre Hilfe für Migrantinnen und Migranten nicht als Straftat betrachtet wird. Bei Redaktionsschluss wussten Lisa Bosia Mirra und Norbert Valley noch nicht, wann ihre Verfahren stattfinden werden. Sie sind entschlossen, mit allen Mitteln zu kämpfen, um die Solidarität zu verteidigen. Die Initiative von Lisa Mazzone wird voraussichtlich nicht vor Frühling 2019 im Parlament behandelt werden. «Unser Land brüstet sich mit dem Vermächtnis von Henri Dunant und der Genfer Konvention, aber es entfernt sich davon. Wer noch ein Gewissen hat, muss für jene kämpfen, die es verloren haben», meint Norbert Valley entschlossen.