AMNESTY: Wie sieht die aktuelle Situation der Vertriebenen aus?
Shabia Mantoo: Ihre Situation ist sehr schwierig; es ist ein täglicher Kampf um Nahrung und Sicherheit vor den Bomben und der Gewalt. Seit Beginn des Konflikts wurden insgesamt mehr als vier Millionen Menschen zur Flucht gezwungen; von diesen haben viele mittlerweile versucht, nach Hause zurückzukehren. Sie finden bei der Rückkehr oft beschädigte Häuser vor und sind gezwungen, erneut wegzugehen. Auch werden viele mehrfach vertrieben, sie fliehen von einem Gebiet zum anderen. Die meisten sind inzwischen länger als ein Jahr vertrieben und haben alle ihre Ersparnisse und Ressourcen ausgeschöpft. Sie sind auf die Hilfe grosszügiger Menschen angewiesen, die eigentlich selbst Hilfe benötigen würden. Viele Familien konnten nichts mitnehmen und leben unter erbärmlichen Bedingungen oder sogar im Freien.
Warum verlassen nicht mehr Menschen das Land?
Die Mehrheit hat keine andere Wahl, als im Jemen zu bleiben. Dafür gibt es verschiedene Gründe: So ist es kaum möglich, das Land zu verlassen, wenn es an den Grenzen Kämpfe gibt. Die Menschen sind damit beschäftigt, am Leben zu bleiben, und verfügen nicht über die Mittel, um eine Reise anzutreten. Nur ein vergleichsweise kleiner Teil, rund 65 000 Personen, ist in Nachbarstaaten oder weitere Länder des Nahen Ostens geflohen.
Wie kann das UNHCR die Binnenvertriebenen in dieser Kriegssituation erreichen?
Nun, das UNHCR ist bereits seit etwa drei Jahrzehnten im Jemen. Wir haben zunächst auf die Bedürfnisse von Flüchtlingen reagiert, die vom Horn von Afrika nach Jemen flohen (siehe unten, Anm. der Red.). Im Lauf der Jahre wurden wir immer mehr mit Wellen der Vertreibung innerhalb des Landes konfrontiert. Dank unserer langjährigen Präsenz im Land hatten wir bereits humanitäre Programme im Einsatz, so können wir jedes Governorat auf dem Festland erreichen. Dennoch arbeiten wir unter schwierigen Umständen, denn der Konflikt ist zur grössten humanitären Krise weltweit angewachsen. Wir müssen uns bei allen Konfliktparteien kontinuierlich für einen ungehinderten humanitären Zugang einsetzen, um die Menschen in Not erreichen und den Schutz unseres Personals und der Infrastruktur gewährleisten zu können.
Der Golf der Flucht und des Leids
Es ist kaum zu glauben, aber im Jemen kamen und kommen trotz dem Krieg jedes Jahr noch Zehntausende MigrantInnen und Flüchtlinge an – vor allem aus Ländern des Horns von Afrika, so Somalia, Äthiopien und Eritrea.
Der Jemen war aufgrund seiner geografischen Lage am Golf von Aden schon immer ein Transit- und Aufnahmeland; viele haben das Ziel, in die Arabischen Emirate oder noch weiter zu reisen. Doch aufgrund der Lage im Jemen bleiben viele Flüchtlinge und MigrantInnen in dem Land stecken. Die Bedingungen, die sie hier erwarten, haben sich von Jahr zu Jahr verschlechtert. «Viele wissen einfach zu wenig über die Situation im Jemen», sagt Shabia Mantoo vom UNHCR. So nehmen sie den Weg über das Meer im Golf von Aden auf überfüllten, kleinen Booten; dabei kommt es – wie auf dem Mittelmeer – zu Unglücken mit unzähligen Toten. Der Konflikt befördert das Netzwerk von Schmugglern und Menschenhändlern, die, wenn Gefahr droht aufzufliegen, nicht davor zurückschrecken, die oft minderjährigen MigrantInnen einfach ins Meer zu werfen. Diejenigen, die es dennoch nach Jemen schaffen, werden nicht selten verhaftet und in Lagern festgehalten, in welchen sie ausgebeutet werden, wie verschiedene humanitäre Organisationen und die Internationale Organisation für Migration berichten. Auch Erpressung, Lösegeldforderungen, Sklaverei und sexuelle Gewalt sind an der Tagesordnung. Es kommt auch zu gewaltsamen Rückführungen – oft von denselben Schleppern, die die Leute ins Land gebracht haben.
Den Weg von Jemen nach Afrika machen umgekehrt jemenitische Flüchtlinge: Gemäss UNHCR sind Zehntausende Jemenitinnen und Jemeniten nach Dschibuti, Somalia und Äthiopien geflohen. Sie leben dann oft in denselben Camps wie die afrikanischen Flüchtlinge, die aus dem Jemen zurückgekehrt sind.