Das Bild der siebenjährigen Amal Hussain ging um die Welt. Der ausgehungerte, skelettartige Körper des Kindes, von Fliegen umschwirrt, wurde zum Symbol der Tragödie, die den Jemen seit vier Jahren heimsucht. Am 26. Oktober erlag das Mädchen dem Hunger. In den vier Jahren des Konflikts sind nach Angaben der Uno fast 80 000 jemenitische Kinder verhungert. Alle zehn Minuten stirbt ein Kind an einer vermeidbaren Ursache. Bei der Hälfte der Kinder unter fünf Jahren ist es Unterernährung.
Das ärmste Land auf der arabischen Halbinsel war schon vom Hunger gebeutelt, bevor der Krieg zwischen den Huthi- Rebellen und der Regierung zwei Drittel der Bevölkerung in eine erneute Ernährungskrise stürzte. «Die Strassen von Sanaa sind voller Bettler und Bettlerinnen. Frauen und Kinder betteln jetzt jede Nacht, das war zuvor selten der Fall», sagt Basheer al-Mohallal, Direktor von Pulse for Social Justice. Seit 2013 führt die Organisation mit Sitz in Sanaa Solidaritätsprojekte in Dörfern und Stadtteilen durch. Seit sich die Konflikte zwischen den Huthis und der Armee Anfang 2014 verschärft haben, arbeitet die NGO mit den Dorfvorstehern auf beiden Seiten zusammen, um die am dringendsten benötigte humanitäre Hilfe zu organisieren.
Tödliche Inflation
Die nationale Währung hat seit Beginn der Krise fast die Hälfte ihres Werts gegenüber dem Dollar verloren. «Lebensmittel sind auf den Märkten zwar erhältlich, aber die Menschen können sie sich nicht mehr leisten», sagt Annabel Symington, Sprecherin des Welternährungsprogramms (WFP) in Sanaa. Die Preise für Grundnahrungsmittel einschliesslich Weizen, Öl, Hülsenfrüchte, Zucker und Salz seien explodiert. «Dies ist eine menschengemachte Krise, die nicht durch Dürre oder schlechte Ernten verursacht wird.»
Basheer al-Mohallal wirft der Koalition vor, den Geldfluss und damit die jemenitische Wirtschaft zu beeinflussen, um die nördlichen Regionen zu schwächen und so Druck auf die Huthis auszuüben, damit diese ihre Waffen abgeben. In den letzten zwei Jahren haben mehr als eine Million jemenitische Beamte ihr Gehalt nicht bekommen. Infolgedessen sank die Kaufkraft vieler Familien, und der Staat brach zusammen. Laut Rasha Mohammed, Jemen-Researcherin bei Amnesty International, ist die Situation komplexer. Beide Seiten seien für die humanitäre Katastrophe verantwortlich. «Luft- und Strassenblockaden stellen keine Verletzung des humanitären Rechts dar, solange sie keine Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung haben. Die Koalition lässt die humanitäre Hilfe mal durch, mal blockiert sie den Zugang und behauptet, damit nicht gegen das Gesetz zu verstossen. Die Huthis ihrerseits versuchen zu kontrollieren, welche Regionen humanitäre Hilfe erhalten.» Ende Dezember warf die Uno den Rebellen vor, einen Teil der humanitären Hilfe bei Sanaa umgeleitet zu haben. Die Güter tauchten an den Marktständen der Hauptstadt wieder auf.
Die Hälfte aller Jemenitinnen und Jemeniten wissen nicht, wann sie das nächste Mal essen werden. Und die medizinische Versorgung ist mit dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems noch schwieriger geworden. Die Hälfte der medizinischen Infrastruktur ist ausser Betrieb. «Nebst der humanitären Hilfe gibt es nur Privatkliniken, aber die sind für die meisten Menschen viel zu teuer. Darüber hinaus ist es fast unmöglich geworden, das Land zu verlassen, um sich im Ausland behandeln zu lassen», sagt Basheer al-Mohallal. Infolge der Blockade und der Bombardierung haben 16 Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser oder sanitären Einrichtungen. Die schrecklichen hygienischen Bedingungen führten 2017 zu einer Cholera-Epidemie – dem schwersten Ausbruch dieser hochansteckenden Krankheit, der je dokumentiert wurde. Auch die Diphtherie breitet sich aus – eine ansteckende, gefährliche Infektionskrankheit, die seit 1992 verschwunden war.
Hodeida brennt und blutet
Im vergangenen Juni hat die Offensive gegen die Stadt Hodeida, wo der wichtigste Hafen des Landes liegt, die Bevölkerung noch härter getroffen. «70 Prozent aller Nahrungsmittelimporte des Jemen kommen in Hodeida an. Die schrecklichen Kämpfe haben die Kapazitäten des Hafens deutlich eingeschränkt», erklärt Annabel Symington von WFP. «Zwischen November und Januar konnten nur 25 Schiffe Hodeida und den kleinen Hafen von Salif weiter nördlich erreichen. Unsere Hilfslieferungen sind entsprechend verzögert worden.»
Ein Hoffnungsschimmer ist der Waffenstillstand, der am 18. Dezember nach den Verhandlungen in Schweden in Kraft trat. Er erlaubte den humanitären HelferInnen, ihre Arbeit in der Region von Tuhaytah und Durayhimi wieder aufzunehmen, wo sie sechs Monate unterbrochen gewesen war. Trotz diesem Fortschritt hat WFP noch immer keinen Zugang zu 51 000 Tonnen Getreide, die in einer Mühle am Roten Meer lagern. Ende Januar beschädigte ein Angriff der Rebellen zwei Silos. «Wir müssen dringend an diese Vorräte heran. Sie sind sehr wichtig, denn sie würden uns erlauben 3,7 Millionen Menschen einen Monat lang zu ernähren», fügt Symington hinzu.
Eine verlorene Generation
Den Beamten wieder ihre Gehälter zu zahlen, würde das Leiden der Bevölkerung lindern. Bei den Verhandlungen von Stockholm sprach die Regierung von Präsident Hadi das Thema an. «Noch hat sich nichts geändert, doch wir sind optimistisch, dass er sein Versprechen hält», sagt Amnesty-Researcherin Rasha Mohammed. Wie die kleine Amal Hussain ist eine ganze Generation von JemenitInnen dem Hunger zum Opfer gefallen. «Selbst wenn der Krieg morgen enden würde, würde es viele Jahre dauern, den Jemen wieder aufzubauen», beklagt Annabel Symington. «Auch wenn wir morgen alle hungernden Kinder ernähren könnten, hätte die Unterernährung irreversible Auswirkungen auf ihr Wachstum und ihr Gehirn. Zwei Millionen Kinder sind am Verhungern. Ihnen wir das Recht auf Nahrung genommen. Sie werden nie mehr richtig wachsen und aktive Mitglieder der Gesellschaft werden können. Es handelt sich um eine verlorene Generation.»