Es war der 7. November 2015, daran erinnert sich Essam Daod, palästinensischer Arzt und Psychiater, noch genau. Tage davor war er mit seiner Frau Maria noch auf der griechischen Insel Lesbos gewesen. Überall hatte es dort an helfenden Händen, an ÄrztInnen und medizinischer Versorgung gefehlt. Nun, wieder zu Hause in Haifa, waren auf den Titelblättern grosser Magazine bereits die ersten Bilder der nach Lesbos Geflüchteten zu sehen.
Beim Durchblättern der Zeitschriften sagte Maria eher beiläufig: «Schau mal, das ist Ahmad.» «Ahmad?», fragte Daod. Es stellte sich heraus, dass Maria fast drei Tage mit diesem völlig traumatisierten Jungen in einem der Lager von Lesbos verbracht hatte. Sie hatte ihm zugehört und zugeredet, mit ihm gekocht, gelacht und geweint, während Daod von Geflüchteter zu Geflüchtetem hetzte.
«Da machte es bei mir Klick», erzählt Daod. «Was die Betroffenen nebst Medikamenten, Kleidung und Essen wirklich brauchen, ist psychologische Betreuung. Nicht erst Wochen oder gar Monate später, sondern hier und jetzt, vor Ort.» Drei Wochen später gründeten Daod und Maria die Organisation Humanity Crew, schalteten eine Website auf und sammelten so 30'000 Euro an Spenden.
Mittlerweile haben die beiden längst ihre bisherigen Jobs gekündigt und arbeiten nur noch für die Humanity Crew. Die Organisation besteht inzwischen aus über 200 voll ausgebildeten HelferInnen und TherapeutInnen, die vor allem in Griechenland und dem Mittelmeer im Einsatz sind.
Nicht, dass Humanity Crew die einzige Organisation wäre, die sich auf traumatisierte Geflüchtete spezialisiert hat. Im Gegenteil: Manche ExpertInnen reden von einem regelrechten Trauma- Boom in der Flüchtlingshilfe. Auch Essam Daod ist skeptisch gegenüber der neuen «Trauma-Industrie». Viele der Organisationen würden gar nicht vor Ort arbeiten, sondern die Geflüchteten erst in den jeweiligen Aufnahmeländern behandeln. «Man konzentriert sich auf eine Behandlung danach. An unmittelbare Interventionen, eine Nothilfe-Psychotherapie sozusagen, denkt niemand. Oder man meint, das funktioniere nicht.» Dabei gehe das sehr wohl, ist Daod überzeugt.
Die Monster verjagen
Sein Zauberwort heisst «Super Hero». Wenn die Geflüchteten in Lastwagen oder auf Booten ankommen, haben sie oft einen Horrortrip hinter sich. Viele sind verängstigt, manche total panisch. In diesem Moment versuchen Daod und seine Crew, ihnen eine andere, eine positive Geschichte zu erzählen. «Wir gehen auf sie zu und sagen ihnen, wie unfassbar mutig sie doch waren, diese Strapazen auf sich zu nehmen, und dass sie stolz auf sich sein dürfen, eben: dass sie Superhelden sind. Was ja auch stimmt!»
Natürlich weiss der Psychiater, dass sich damit allein kein Trauma heilen lässt. «Aber so koppeln wir das Erlebte mit schönen Erinnerungen, damit man später, in der Therapie, an etwas Positives anknüpfen kann.» Das sei bei Kindern besonders wichtig – und auch einfacher, wie Daod sagt. «Viele der Schrecken, die sie erleben mussten, können sie noch gar nicht richtig einordnen.»
Deshalb versuchen Daod und seine KollegInnen, die Fantasie der Kinder anzuregen und die dramatische Erlebnisse positiv zu besetzen. «Zusammen mit den Kindern erzählen wir uns Geschichten: Wie wir, die Könige der Meere, die Wellen mit blossen Händen aufgehalten und Seeungeheuer verscheucht haben und damit Superhelden wurden.»
Kulturelle Fallen vermeiden
Auch bei Langzeit-Therapien versucht die Humanity Crew andere Wege zu gehen. «Viele Traumata sind durch Gewalterfahrungen ausgelöst, die in bestimmten Kulturen aufgrund sozialer oder religiöser Normen heikel sind und über die die Betroffenen nicht reden dürfen», sagt Daod. «Vergewaltigungen zum Beispiel. Deswegen ist es wichtig, dass die Helfer und Therapeuten mit den Geflüchteten direkt in ihrer Muttersprache und ohne Vermittlung von Übersetzern reden können.» Wie sehr kulturelle Gegebenheiten die therapeutische Arbeit beeinflussen können, zeige die «umgekehrte Pyramide», die Daod und seine Crew entwickelt haben. Am Anfang der Behandlung stehen nicht etwa individuelle Sitzungen, wie das bei westlichen Therapien oft der Fall ist. Stattdessen gibt es zunächst Treffen in kleinen Gruppen: Das können Familien sein, ehemalige NachbarInnen oder auch Menschen, die auf der Flucht zusammengefunden haben. «In arabischen Gesellschaften ist die Familie absolut grundlegend, der Einzelne definiert sich immer auch über seine Rolle in der Gemeinschaft.»
Für Daod sind Geflüchtete stets mehr als die Summe ihrer schmerzhaften Erfahrungen. Deswegen wäre es auch falsch, sie auf ihre Rolle als Opfer zu reduzieren: «Niemand will einfach nur ein Traumatisierter sein.» Gerade deswegen gehört für Daod der Umgang mit den Traumata von Geflüchteten zu den dringendsten Aufgaben einer Migrationspolitik. «Wie können die Geflüchteten sich bei uns sicher fühlen und sich integrieren, wenn sie krank sind und depressiv?», fragt Daod. «Um das Leben von Menschen zu retten, müssen wir auch ihre Seele retten.»
Klaus Petrus ist freiberuflicher Fotojournalist und Reporter.