Aktivisten entfernen ein Plakat, auf dem George Soros beschuldigt wird, eine Million MigrantInnen pro Jahr in Europa ansiedeln zu wollen. © REUTERS/Bernadett Szabo
Aktivisten entfernen ein Plakat, auf dem George Soros beschuldigt wird, eine Million MigrantInnen pro Jahr in Europa ansiedeln zu wollen. © REUTERS/Bernadett Szabo

MAGAZIN AMNESTY Orbáns Schikane

Von Keno Verseck. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von März 2019.
Seit Viktor Orbán im Sommer 2014 den Aufbau eines «illiberalen Staats» ankündigte, geht die ungarische Regierung systematisch gegen «die Zivilen» – AktivistInnen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) – vor.

Einst war Orsolya Varga überzeugte Wählerin des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und seiner Partei Fidesz. Doch in den letzten Jahren kamen der Theaterpädagogin immer mehr Zweifel. «Machtmissbrauch und Korruption haben sich überall ausgebreitet», sagt die 50-Jährige.

Orsolya Varga arbeitet an einer gemeinnützigen Privatschule in der südungarischen Stadt Pécs. Nach der Parlamentswahl im April letzten Jahres entschloss sie sich, öffentlich zu protestieren «gegen Tyrannei und antidemokratische Verhältnisse », wie sie sagt. Sie gründete über Facebook die Initiative «Frauen-Widerstandsbewegung », deren Anfangsbuchstaben im Ungarischen das Wort «NEM» ergeben, zu Deutsch: «Nein». Ihre Mitglieder organisieren in Pécs regelmässig Protest-Happenings.

Deswegen steckt die Schule, an der Orsolya Varga arbeitet, nun in Schwierigkeiten. Die Pädagogin möchte nicht, dass Einzelheiten des Falls und der Name der Schule öffentlich bekannt werden, sie will ihre KollegInnen nicht gefährden. Der Schuldirektor könnte sich gezwungen sehen, Orsolya Varga zu entlassen, weil er sonst riskiert, keine Fördergelder mehr zu erhalten. Damit würde die Existenz der Schule infrage gestellt. Schweigen will Orsolya Varga jedoch nicht. «Wenn der Direktor mich entlassen muss, gehe ich eben putzen oder arbeite an der Supermarktkasse», sagt sie.

Fälle wie dieser sind in Ungarn alltäglich. Seit Viktor Orbán im Sommer 2014 den Aufbau eines «illiberalen Staats» ankündigte, geht die Regierung systematisch gegen «die Zivilen» – AktivistInnen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) – vor. Es trifft nicht nur Organisationen wie Amnesty International oder das Helsinki- Komitee, sondern auch einzelne Personen wie Orsolya Varga oder kleinere Initiativen aus der Provinz. Die Mittel sind Medienkampagnen mit abstrusen Vorwürfen, schwarze Namenslisten, Behördenschikanen und Gesetze wie das letztes Jahr verabschiedete «Stop Soros!»-Paket. Mit dessen Bestimmungen können NGOs kriminalisiert werden. Unter anderem müssen sie eine 25-prozentige Strafsteuer auf Einnahmen zahlen, wenn sie «illegale Einwanderung fördern».

«Diese Bestimmungen schweben wie ein Damoklesschwert über uns», sagt Áron Demeter von Amnesty Ungarn. «Sie sind ein Drohsignal, dass jederzeit etwas gegen uns unternommen werden kann.»

Zum Alltag der grösseren NGOs gehört auch, dass sie Schwierigkeiten haben, Veranstaltungsräume zu finden, weil VermieterInnen staatliche Schikanen fürchten. Einrichtungen des öffentlichen Dienstes sagen Weiterbildungen zu Themen wie Menschen- und Bürgerrechte ab. Wegen der breit auslegbaren Bestimmungen des «Stop Soros»-Gesetzes zog die Open- Society-Stiftung des US-Börsenmilliardärs George Soros im August letzten Jahres von Budapest nach Berlin um – sie fürchtete willkürliche staatliche Eingriffe in ihre Arbeit und Repressionen gegen Mitarbeitende.

Orsolya Varga erinnert die Lage in Ungarn inzwischen fast an die Zeiten der Kádár-Diktatur. Warum steckt sie eigentlich nicht zurück – immerhin steht ihre Existenz auf dem Spiel? Orsolya Varga sagt: «Wenn mich meine Kinder und Enkel eines Tages fragen, was ich in dieser Zeit gemacht habe, dann möchte ich antworten können: Ich habe nicht geschwiegen.»