Das erlittene Unrecht soll anerkannt werden: Das sei häufig die Motivation ihrer Klientinnen für ein Gerichtsverfahren, sagt Beatrice Vogt, Anwältin in Biel. «Sie wollen damit klare Grenzen setzen.» Der Weg dorthin kann aber steinig sein. Und lang. «Viele Verfahren dauern drei und mehr Jahre», erklärt Vogt. Das bremst die Betroffenen oft in der Verarbeitung des Geschehenen. Vogt weist die Klientinnen auch darauf hin, dass der Beschuldigte freigesprochen werden könnte – statistisch gesehen ist ein Freispruch oder eine Einstellung des Verfahrens sogar wahrscheinlicher als eine Verurteilung. «Das Gericht muss davon überzeugt sein, dass sich die Tat so zugetragen hat, wie die Frau sagt», so Vogt. «Wenn es nicht sicher ist, muss es den Beschuldigten freisprechen – gemäss dem Grundsatz ‹in dubio pro reo›, im Zweifel für den Angeklagten.»
Was sagt die Anwältin einer Frau beim ersten Treffen ausserdem? «Wenn sie noch keine Anzeige bei der Polizei gemacht hat, dann frage ich zum Tatgeschehen möglichst wenig, damit ich die Befragung bei der Polizei nicht beeinflusse. Ich erkläre das Verfahren und mache auf Schwierigkeiten aufmerksam.» Dazu zählt zum Beispiel, dass die Klientin keinen Einfluss darauf hat, wann die Befragungen durch Polizei und Staatsanwaltschaft stattfinden. Vogt weist ihre Klientinnen auch darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft und die Gerichte kritische Fragen stellen werden, dass die Beschuldigten meist nicht geständig sind und dass die Verteidigung deren Version vertreten muss. Für ein Opfer kann das sehr belastend sein, weil bei ihm der Eindruck entstehen kann, es werde ihm nicht geglaubt. Die Befragungen können grundsätzlich eine Retraumatisierung auslösen: Die Betroffenen erleben die ganze Tat innerlich nochmals. «Darum ist es so wichtig, dass Befragungen von Staatsanwälten und Richtern durchgeführt werden, die über Traumatisierungen Bescheid wissen», sagt Peter Rüegger, ehemaliger Leiter des Kommissariats Ermittlungen bei der Stadtpolizei Zürich, der heute als selbstständiger Jurist tätig ist. «Sie sollten dem Opfer interessiert begegnen, sich Zeit nehmen und eigene Anschauungen hinterfragen können. Wichtig ist auch eine verständliche Sprache», wünscht sich Rüegger.
Luft nach oben
Bettina Steinbach, Psychologin bei der Frauenberatung Zürich, blickt auf drei Jahrzehnte Erfahrung in der Beratung von Gewaltopfern zurück. «Bei der Stadt- und Kantonspolizei Zürich hat sich in dieser Zeit viel getan, es gab Schulungen, und das Bewusstsein für das Thema ist gewachsen. Bei der Justiz gibt es in meinen Augen noch Luft nach oben.» Die Staatsanwältinnen, Staatsanwälte und RichterInnen sollten zum Beispiel wissen, dass traumatisierte Frauen oft ihre Gefühle abspalten und die Tat möglicherweise weniger dramatisch darstellen, als sie tatsächlich war. Ins Bewusstsein rücken sollte auch, dass sexuelle Gewalt nicht zwingend sichtbare Verletzungen oder zerrissene Kleider hinterlässt. «Während der Tat erstarren viele Betroffene regelrecht und können sich nicht wehren. Vor Gericht werden aber viele Frauen danach gefragt, wieso sie sich nicht zur Wehr gesetzt hätten.»
Auch die Anwältin Beatrice Vogt sieht bei der Justiz noch Verbesserungsmöglichkeiten: Teils fehle die Sensibilisierung, und es gebe auch Staatsanwälte, die solche Verfahren mühsam fänden. Denn die Beweisführung sei bei 4-Augen-Delikten schwierig und aufwendig, und das seien Delikte gegen die sexuelle Integrität nun mal meistens. «Staatsanwaltschaft und Gerichte stehen unter einem sehr hohen Arbeitsdruck. Das kann dazu führen, dass Befragungen ungenügend vorbereitet werden oder die Anklageschrift unsorgfältig verfasst wird, was einen Freispruch zur Folge haben kann.»
Knackpunkt 4 -Augen-Delikt
Weil Delikte gegen die sexuelle Integrität meistens ohne Zeugen oder Zeuginnen stattfinden, steht häufig Aussage gegen Aussage. Peter Rüegger erklärt, dass es dennoch weitere Beweismittel geben könne. «Das kann die Aussage der Freundin sein, der das Opfer kurz nach der Tat alles erzählt hat. Oder Social- Media-Einträge, Tagebücher oder SMS-Nachrichten. » Rüegger versucht gemeinsam mit den Klientinnen, solche Beweismittel aufzuspüren. Liegt die Tat erst kurz zurück, dann ist eine Spurensicherung durch forensische Spezialisten wichtig.
Was aber ist mit Falschbeschuldigungen? Wenn eine Frau einem Mann eine Tat vorwirft, die nicht stattgefunden hat oder nicht so, wie sie es sagt? «Falschbeschuldigungen sind sehr selten», erläutert Rüegger. Die Datenlage ist schwierig, eine neuere Meta-Analyse ergab eine Falschanzeigenquote von 5 Prozent. «In meinen 15 Jahren als Leiter des Kommissariats Ermittlungen der Stadtpolizei Zürich kann ich mich an zwei Fälle von Falschbeschuldigung erinnern, die dank sorgfältigen Befragungen durch aufmerksame, gut ausgebildete Polizistinnen und Polizisten aufgedeckt werden konnten », sagt Rüegger. Die bekannten Fälle von Falschbeschuldigungen würden von den Medien sehr ausführlich aufgenommen, so dass sie einen bleibenden Eindruck in der Öffentlichkeit hinterliessen. «Wenn jemand zu Unrecht beschuldigt wird, ist das tatsächlich sehr gravierend», betont Rüegger. Es komme aber seltener vor, als man aufgrund der Medienberichterstattung meinen könnte. Problematischer sei vielmehr der Umstand, dass die Zahl der Anzeigen und Verurteilungen von Sexualstraftätern überaus gering sei.
Magere Entschädigung
Eine Anzeige und ein allfälliges Gerichtsverfahren bedeuten für eine klagende Frau eine hohe emotionale Belastung. Es kann aber auch finanziell einiges auf sie zukommen. In den meisten Fällen muss die betroffene Frau die Kosten für Verfahren und Rechtsbeistand zwar nicht tragen. In einem Berufungsverfahren besteht jedoch ein erhebliches Kostenrisiko. Und selbst wenn sie den Fall gewinnt und vom Gericht eine Genugtuung für die psychischen Folgen der Tat zugesprochen erhält, ist ungewiss, wie viel sie davon schliesslich bekommt. Kann der Täter die Genugtuung nicht bezahlen, so sollten die Kantone einspringen. Die vom Gericht zugesprochenen Beträge werden aber seit der letzten Revision des Opferhilfegesetzes von den kantonalen Opferhilfestellen erheblich gekürzt, wie Anwältin Vogt sagt. «Die Genugtuung ist bei uns ja sowieso nicht so hoch. Mit dieser Gesetzesrevision spart man auf dem Rücken der Opfer. Sie erhalten dann vielleicht 8000 statt 12 000 Franken wie früher. Das ist doch erbärmlich.»
Buchtipp:
Jan Gysi/Peter Rüegger (Herausgeber):
Handbuch sexualisierte Gewalt.
Hogrefe 2018. 722 Seiten.